Jerusalem oder Bagdad

Bei den Gipfeltreffen in Nizza und München gelang es nicht, die europäisch-amerikanischen Differenzen über die zukünftige Rolle der Nato zu überbrücken. von bernhard schmid, nizza

Zahlreiche Plakate mit dem Slogan »Ein Willkommen den Soldaten des Friedens« hatte die Stadtverwaltung unter Bürgermeister Jacques Peyrat, einem ehemaligen Mitglied des Front National, der jetzt der konservativen UMP angehört, in Nizza aufhängen lassen. Auf ihnen ist eine Soldatin vor den Umrissen der mittelamerikanischen Landbrücke von Mexiko bis Kolumbien zu sehen. Diese Region zählte bislang nicht zu den Einsatzgebieten der Nato, deren 26 Verteidigungsminister sich am Mittwoch vergangener Woche zu einem informellen Gipfel in Nizza versammelten.

Da nicht sicher war, ob die Willkommensbotschaft allgemein gutgeheißen würde, überwachten neben den üblichen Polizeikräften auch 1200 französische Soldaten die Sicherheit in der Stadt an der Côte d’Azur. Helikopter der Luftwaffe überflogen im Tiefflug die Uferpromenade, das Kriegsschiff »Jean Bart« kreuzte dicht vor der Küste. Dennoch demonstrierten 2 000 zumeist jugendliche Nato-Gegner.

Um die künftigen Einsatzgebiete der Nato wurde auch in Nizza gestritten. Begonnen hat die diplomatische Woche bereits am Dienstag in Paris, wo die neue US-Außenministerin Condoleezza Rice an der prestigereichen politikwissenschaftlichen Fakultät Science Po eine Rede vor handverlesenem Publikum hielt. »Wir hatten Differenzen«, sagte sie. »Es ist Zeit, sie zu überwinden, ein neues Kapitel in unseren Beziehungen, ein neues Kapitel in unserer Allianz aufzuschlagen.« Die frühere Expertin für den sowjetischen Block erwartet, dass bald im Mittleren Osten »die Reformkräfte triumphieren werden, so wie der Westen den Kalten Krieg gewonnen hat«.

Ihr Auftritt wurde allgemein als Zeichen dafür interpretiert, dass die Politik der USA nach den Divergenzen während des Irak-Kriegs von 2003 eine Wiederannäherung an die EU anstrebt. Zwar sei, so meinte die Tageszeitung Libération, in US-amerikanischen Medien das French Bashing noch ein beliebter nationalistischer Sport. Dennoch stünden im offiziellen Diskurs die Zeichen eher auf Abbau der Differenzen. Auch im französischen Establishment sind die Befürworter einer Annäherung an die Politik der USA im Vormarsch. Die konservative UMP ist gespalten in einen gaullistischen, auf militärpolitische Eigenständigkeit bedachten Flügel einerseits und die Atlantiker um den Parteivorsitzenden Nicolas Sarkozy andererseits, die derzeit in der Offensive sind.

Am folgenden Tag in Nizza war allein der Ort des Gipfeltreffens ein Symbol, denn zum ersten Mal fand es in Frankreich statt. Das Land ist derzeit nach den USA mit dem zweitgrößten Kontingent an auswärtigen Einsätzen des Nordatlantikpakts beteiligt. Frankreich hat den Oberbefehl über die Nato-Streitkräfte im Kosovo (Kfor) und leitete bis zum Wochenende die Isaf-Truppe in Afghanistan.

Einigkeit scheint in der Nato weiterhin über gemeinsame Missionen zur Stabilisierung von Bürgerkriegsgebieten zu bestehen. In Nizza wurde beschlossen, die Isaf um 500 Soldaten auf 8 500 aufzustocken, die Präsenz der Nato-Soldaten soll von Kabul und dem Norden des Landes aus auf Westafghanistan ausgedehnt werden.

Umstritten bleibt nach wie vor das Operationsfeld Irak. Seit dem Nato-Gipfel in Istanbul im Juni vorigen Jahres drängt die Regierung der USA auf eine stärkere Einbeziehung der Militärorganisation, von der eine Beteiligung an der Ausbildung irakischer Soldaten und Polizisten gefordert wird. Vor allem der französische Präsident Jacques Chirac widersprach damals, da er darin einen politischen »Stolperdraht« erblickte. Bei Attacken auf die Ausbilder der Nato würde der Militärpakt dort zur Konfliktpartei, damit würden die anderen Mächte in die politische Mitverantwortung für das US-amerikanische Vorgehen im Irak hineingezogen.

Manche EU-Staaten bestanden auch in Nizza darauf, ihre Truppen vom Irak fern zu halten. Man einigte sich auf einen Kompromiss. So wird sich Frankreich verstärkt an der Ausbildung irakischer Militärs und Gendarmen beteiligen und 15 Millionen Euro dafür aufwenden. Die Ausbildung aber findet in Schulen im Golfstaat Katar und auf französischem Boden statt. Die USA sehen darin einen Erfolg bei dem Versuch, die Nato zumindest symbolisch einzubeziehen.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurden die Debatten über die künftige Rolle der Nato fortgesetzt. Einige europäische Nato-Mächte nutzten die Gelegenheit, um neue machtpolitische Ambitionen anzumelden.

Der frühere niederländische Außenminister und derzeitige Nato-Generalsekretär, Haap de Joop Scheffer, regte einen Einsatz der Militärorganisation im israelisch-palästinensischen Konflikt an. Würde die Nato von beiden Seiten um Hilfe gebeten, »muss das Bündnis bereit sein, seine volle Rolle zu übernehmen«. Von dieser Aussicht dürften freilich Israelis und US-Amerikaner wenig begeistert sein; auch die Palästinenser dürften dies kaum als Verwirklichung politischer Souveränität betrachten. Kein Beteiligter des Konflikts hat nach der Nato gerufen.

Dennoch fand der deutsche Verteidigungsminister Peter Struck, der sonst gern die Überlastung der Bundeswehr beklagt, die Idee sofort gut: »Wenn die Nato auf Bitten beider Seiten diese Verantwortung wahrnähme, gibt es keinen Zweifel, dass auch Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird.«

Struck verlas in München auch die Rede des erkrankten Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der für die Einsetzung einer Kommission zur »Reform« des Militärbündnisses plädiert. Schließlich lägen die strategischen »Herausforderungen« heute »sämtlich jenseits der alten Beistandszone des Nordatlantik-Pakts« während des Konflikts mit der Sowjetunion. Die Nato sei »nicht mehr der primäre Ort, an dem die transatlantischen Partner ihre strategischen Vorstellungen konsultieren und koordinieren«. Ferner werde der derzeitige Dialog zwischen den europäischen Nato-Mächten und den USA »weder dem wachsenden Gewicht der (Europäischen) Union noch den Anfordernissen transatlantischer Zusammenarbeit« gerecht. Doch nicht nur die EU, vor allem Deutschland hat nach Schröders Ansicht zu wenig Einfluss und soll deshalb einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat bekommen.

Nach dieser recht offenherzigen Verkündung des Anspruchs auf einen deutschen Machtzuwachs bekundeten andere Teilnehmer ihre »Irritation«, die Bild-Zeitung sah den Kanzler gar »abgewatscht«. Der US-amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bezeichnete die Nato als »das entscheidende Militärbündnis der Welt und die erfolgreichste Allianz in der Geschichte der Menschheit«. Auch der Nato-Generalsekretär widersprach des Kanzlers Rede. Er sah keinen Reformbedarf, die Nato befinde sich bereits in einem »Wandlungsprozess«, und »Handeln« sei »wichtiger als Reden«. Wie stark die Allianz sei, zeigten ihre internationalen Einsätze.

Weder in Nizza noch in München scheint es zu einer Annäherung bei den Streitpunkten gekommen zu sein. Die Nato dürfte weiterhin dort zum Einsatz kommen, wo es gemeinsame Interessen gibt. Das aber ist längst nicht mehr überall auf der Welt der Fall. Wie Schröder und Chirac will sich auch Rumsfeld die Möglichkeit haben, bei Militäroperationen seine Partner zu wechseln: »Der Auftrag bestimmt die Koalition.«