Festspiele der Aggression

Die Wettbewerbsfilme der diesjährigen Berlinale sind teilweise so unterirdisch, dass das Publikum aggressiv wird. von elke wittich

Wenn die Berlinale zu etwas taugt, dann zur Beantwortung der seit einigen Jahren immer wieder, beispielsweise angesichts jugendlicher Schulamokläufer, auftauchenden Frage: Was war zuerst da, der Film oder die Gewalttat?

Die beiden vorherrschenden Lehrmeinungen zum Thema waren bislang, wie es sich in solch umstrittenen Fällen gehört, diametral entgegengesetzt. Erst Splattermovies bringen Menschen im real life dazu, ihren Mitlebewesen Furchtbares anzutun, lautet die eine – ganz so, als ob die Nazis damals erst durch Streifen wie »Last house on the left« auf die Idee des Massenmordens gekommen wären. Explizite Gewaltdarstellungen haben einen kathartischen Effekt, lautet die andere These, der Zuschauer lebe Rache- und ähnliche Phantasien stellvertretend aus und komme daher nur schwerlich auf die Idee, selbst Hand anzulegen.

Nun, am überreichen Angebot an Gore-Filmen kann es absolut nicht liegen, dass die Gewaltbereitschaft auf der Berlinale höher ist als in jeder langen Kinonacht in irgendeiner Provinz. Stattdessen kommen, weil die Festspiele nicht mehr der Ort sind, an dem die US-amerikanische Academy ihre Oscar-Favoriten verkündet, zunehmend quälend lange Close Ups oder Kamerafahrten vor, oder Wettbewerbsfilme, die so schlecht sind, dass man noch beim Rausgehen das dringende Bedürfnis hat, jemandem von hinten die mit Vorankündigungen jeglicher Art prall gefüllte Gratis-Stofftüte um die Ohren zu hauen.

»One day in Europe«, der deutsche Wettbewerbsbeitrag, ist so ein Fall. Ihn anzusehen und das Gefühl zu haben, anderthalb Lebensstunden zu vertrödeln, ist eins. Der von Hannes Stöhr inszenierte Film, der am Tag eines fiktiven, in Moskau ausgetragenen Champions-League-Endspiels zwischen Galatasaray Istanbul und Deportivo La Coruña spielt, ist einer jener von Insidern gern als »Europudding« geschmähten Versuche, mittels Fördergeldern aus verschiedenen EU-Ländern irgendwie »international« zu wirken.

Vier Ausländer landen jeweils in Moskau, Istanbul, in einem spanischen Pilgerort und in Berlin, nach mehr oder weniger wirklich stattgefundenen Raubüberfällen und ohne der jeweiligen Landessprache mächtig zu sein, auf Polizeiwachen. Was als ironische Spielerei mit nationalen Klischees beginnt, endet in Berlin mit einem der bemüht-originell-lustigen Plots, für die deutsche Filme überall auf der Welt nur deshalb nicht berüchtigt sind, weil sie nämlich eben niemand kauft. Beim Rausdrängeln nach der Vorführung benehmen sich dementsprechend die Leute besonders schlecht.

Insgesamt geht die Aggro-Berlinale so: Man ist da und betrachtet jeden anderen, der auch da ist, als potenziellen Feind. Da kann der unendlich schmonzige Eröffnungsfilm »Man to man« noch so sehr die Botschaft verbreiten, dass Pygmäen ganz unbedingt auch Menschen sind – sobald es darum geht, kostenlose Kulis, Partyeinladungen oder Taschen abzugreifen, ist der Typ neben einem einfach nur noch der Feind.

»Es ist ziemlich unglaublich, was sich hier manchmal abspielt«, erklärt beispielsweise einer der glatzköpfigen Türsteher, den ein sehr trauriges Schicksal dazu bestimmt hat, die für das normale Publikum nicht vorgesehenen Vorstellungen des Filmmarkts, die Super-Insider-Vorführungen, zu bewachen. Und er fährt fort: »Am schlimmsten sind die Leute mit Dauerkarten, die nicht einsehen wollen, dass sie zwar viel Geld bezahlt haben, aber trotzdem nicht in jedes Kino reinkommen. Die werden manchmal auch handgreiflich, so richtig handgreiflich, um genau zu sein!«

Eine Person, die in den zwanziger Jahren noch Platzanweiserin hieß, ist heute ein gleichermaßen mit einer Berufsuniform und -auffassung hochgerüstetes blondes Pferd, das seinen Job sehr, sehr ernst nimmt und so etwas wie freie Sitzwahl nicht duldet. Aus welchen Gründen auf der einen oder anderen rotsamtenen Sitzgelegenheit gerade niemand Platz genommen hat, interessiert sie dabei überhaupt nicht, denn, hey, dies ist die Berlinale, und da kann sie auf Einzelschicksale keine Rücksicht nehmen.

Und so schreitet das Pferd irgendwann zur Tat. Nach der obligatorischen Ankündigung, dass freie Plätze mit Rücksicht auf die draußen Wartenden bitte per Handzeichen angekündigt werden sollen, entdeckt es mitten im Saal zwei unbesetzte Sessel, die jedoch erkennbar schon vergeben sind. Ihre Besitzer haben Taschen und Mäntel darauf und drumherum verstreut, was die Platzanweisöse jedoch nicht stört. »Bitte reichen Sie die Sachen zu mir durch«, herrscht sie die Drumherumsitzenden an, »so geht das nämlich nicht!«

Zarte Einwände, dass die Sesselbesetzenden vielleicht nur gerade ihrem Menschenrecht auf einen Toilettenbesuch nachkommen und dies kein Grund sei, sie von der Vostellung auszuschließen, leuchten der Zerbera nicht ein. »Hol den Kram doch selber, wenn du dich traust!« fasst schließlich ein Mutiger die Meinung aller umsitzenden potenziellen Taschendurchreicher zusammen, woraufhin die Kinobedienstete aufgibt.

Vom nächsten Jahr an soll die Berlinale Ende Januar statt Mitte Februar stattfinden. Was nicht etwa daran liegt, dass die Teilnehmer die Zeit bis zur nächsten Schlacht um die Kinosessel nicht abwarten können, sondern daran, dass man im Berlinaleprogramm lieber die Oscarnominierungen mit den Sundance-Ergebissen kombinieren möchte.

Notorische Filmfestspielbesucher sollte das jedoch nicht schrecken. Aggro-Berlinale heißt nämlich auch, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Schlechtes Benehmen im Kino nicht zu tolerieren etwa, also sofort einzuschreiten, wenn Sitzriesen im Sessel vor einem denken, sie könnten es sich hocherhobenen Hauptes dort gemütlich machen. Oder, und das ist der am weitesten verbreitete Fall, einen extrem nach den allerverbotensten Körpergerüchen der Welt müffelnden Kinobesucher mit den mitfühlenden Worten »Hau ab, du stinkst!« wegzujagen.

Für wirklich entschlossene Menschen sind die Berliner Filmfestspiele also ein nie versiegender Quell beständiger Heiterkeit.