Gerangel um die Pufferzone

Deutschland, die EU und die USA wollen ihren Einfluss auf die Ukraine verstärken. von jörg kronauer

In der Ukraine, sagt Gernot Erler, ist es Frühling: »Kiewer Frühling im Novemberschnee.« Der SPD-Außenpolitiker schwärmt: »Dieses Land handelt plötzlich selber, mit den Stimmen vieler Tausender, die nicht mehr schweigen und dulden wollen.« Ein faszinierender Vorgang sei das, jubelt Erler im Bundestag, eine Revolution, eine »neue Ukraine« entstehe. »Wir haben alles Recht und die Pflicht, ihr unsere Sympathie und unsere Unterstützung zuzusagen.«

Gernot Erler als begeisterter Revolutionär: Ein bisschen ungewohnt wirkt seine neue Rolle schon. Vor sieben Monaten hat sich der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende ein wenig frostiger über die Ukraine geäußert. Die Ost-Erweiterung der EU war noch jung, das Land erst seit wenigen Tagen ein unmittelbarer Nachbar der Europäischen Union. Wie sollte man mit dem neuen Nachbarn umgehen?

»Wider Europe«, zu deutsch »größeres Europa«, so heiße das Konzept, das auf die Ukraine, Belarus und Moldawien angewandt werde, sagte Erler der Deutschen Welle. Dem »Zwischenstaatsraum« zwischen Russland und der EU empfehle er eine »sehr intensive Nachbarschaft«, intensiv weniger in Richtung Osten, sondern vor allem nach Westen. Die Ukraine müsse sich der EU annähern und hierfür ein »Monitoringsystem« und einen »Screeningprozess« durchlaufen, dozierte Erler. Trocken stellte die Interviewerin fest: Ein solches von der EU abhängiges Randgebilde nennen manche offen eine »Pufferzone«.

Auf das europäische Zentrum soll sich die Ukraine orientieren, da ist man sich in der EU einig. Die westlichen Großmächte arbeiten ohnehin seit Jahren daran, die Macht Russlands in den 1991 aus der Sowjetunion ausgetretenen Ländern zu brechen. Die baltischen Staaten sind in die EU und in die Nato integriert, in Zentralasien ist dagegen Russlands Einfluss noch stark. Der Kaukasus ist heiß umkämpft, Georgien orientiert sich seit dem Umsturz im vergangenen Jahr in Richtung Westen. Belarus und die Ukraine schließen geographisch den Ring: Würde sich die Ukraine an die EU binden, dann käme die Einkreisung Russlands ein gutes Stück weiter voran.

Doch die russische Regierung schaut nicht tatenlos zu. »Der Kremlchef richtet in seiner zweiten Amtszeit seine Integrationsstrategie auf die Ukraine«, mokierte sich der deutsche Russland-Experte Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im September. Der ukrainische Präsident Leonid Kutschma sei von seinem russischen Amtskollegen gedrängt worden, ein Wirtschaftsbündnis mit Russland, Belarus und Kasachstan einzugehen, schrieb Rahr. Mit der »Ost-EU« habe die Ukraine einen dramatischen »Schwenk in Richtung Moskau« vollzogen.

Was tun? Die deutsche Außenpolitik agierte mit Blick auf die diesjährigen Präsidentschaftswahlen zunächst zweigleisig. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung stellte gemeinsam mit dem Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) des ehemaligen Kohl-Beraters Werner Weidenfeld eine »Expertengruppe ukrainische Präsidentschaftswahlen 2004« auf. Die Expertengruppe beobachtete seit Dezember 2003 den Wahlkampf, gab nebenher in Kiew »Politikempfehlungen für ein erfolgreiches und effektives Reformhandeln«. Unter den Beobachtungskriterien der Friedrich-Ebert-Stiftung und des CAP fand sich ein wichtiger Punkt: die »Verpflichtung der Kandidaten gegenüber einer ›europäischen Option‹«.

So stellten sich die Deutschen gut mit allen Ansprechpartnern und kooperierten gleichzeitig mit Viktor Juschtschenko. Der hatte zwischen 1999 und 2001 als Ministerpräsident mit Wirtschaftsreformen begonnen, ganz nach dem Geschmack der schon 1994 eingerichteten »deutschen Beratergruppe Wirtschaft bei der Ukrainischen Regierung«.

»Die deutsche Beratergruppe war das Beste, das Deutschland der Ukraine gegeben hat«, begeisterte sich Juschtschenko noch, nachdem er seinen Posten verloren hatte. Die Ursache für die Amtsenthebung war seine von den Deutschen inspirierte Wirtschaftspolitik, die nicht nur für Unmut unter Wirtschaftsmagnaten sorgte, die sich an Russland orientierten, sondern auch große Teile der Bevölkerung weiter in die Verarmung trieb.

In Juschtschenkos Amtszeit, das bestätigt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin, stieg der deutsche Anteil an den ukrainischen Importen »mehr als der aller anderen Industrieländer«. Die Bundesregierung hat das nicht vergessen. Seit Jahren ist Juschtschenko unter den ukrainischen Politikern der Liebling der Deutschen. Oft war er zu Gesprächen in Berlin, im vergangenen Herbst nahm er als Gast am SPD-Parteitag teil.

Dabei umfasst sein Wahlbündnis auch eine Organisation, die schreckliche Erinnerungen weckt. Am 30. Juni 1941 marschierte die Wehrmacht gemeinsam mit ukrainischen Kollaborateuren in L’wiw ein. Sie verübten unmittelbar danach barbarische Pogrome unter den Jüdinnen und Juden in der Stadt. 4 000 Menschen ermordeten die antisemitischen Schlächter allein in L’wiw. Auf ukrainischer Seite beteiligte sich daran vor allem der Bandera-Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN(B)). Er rief, auf deutsche Unterstützung hoffend, noch am Abend des Einmarschs einen unabhängigen ukrainischen Staat aus. 1992 gründeten Anhänger der OUN(B) den Kongress Ukrainischer Nationalisten. Er gehört zu Juschtschenkos Wahlbündnis.

Die Vorbereitungen der Massendemonstrationen für Juschtschenko sind nicht nur von Deutschland unterstützt worden. Unterstützung kam auch von den serbischen Umsturzprofis von Otpor (ukrainisch: Pora), die mit US-amerikanischen Geldern schon in Belgrad und Tbilisi geholfen haben, den russischen Einfluss entscheidend zu schwächen. Der US-Präsident George W. Bush entsandte Senator Richard Lugar persönlich zur Wahlbeobachtung in die Ukraine, die Vereinigten Staaten sprachen als erste von Wahlfälschung. Das Verhältnis zwischen den USA und der Ukraine galt schon zuvor nicht gerade als entspannt.

Den Auslöser für die harte Haltung des Westens nach dem zweiten Wahlgang vermuten Beobachter in einem Verstoß gegen westliche Rohstoffinteressen. Über ukrainisches Territorium führen wichtige Pipelines. Besonders umstritten ist die Pipeline Odessa-Brody, die in großem Maßstab, wie Rahr schreibt, »kaspisches Öl unter Umgehung Russlands nach Westen transportieren« soll, also vom Schwarzen Meere in Richtung Polen.

Genauer: sollte. Denn Pipelines sind tückisch. Man kann die Durchlaufrichtung einfach umkehren. Odessa-Brody »wurde kurzerhand umgepolt«, schäumte Rahr im September. Jetzt leitet Brody-Odessa Öl aus dem Norden Russlands ans Schwarze Meer. Zu allem Überfluss sicherte sich der russische Monopolist Transneft eine Woche vor der ukrainischen Stichwahl für 15 Jahre das alleinige Durchleitungsrecht in der Ukraine.