Die Botschaft des Paten

Das neue Video bin Ladens von jörn schulz

Viele Analysten hatten eine andere Oktoberüberraschung prophezeit. Sie erwarteten, dass kurz vor der Präsidentschaftswahl Ussama bin Laden dead or alive als Trophäe präsentiert würde, da die US-Regierung seinen Aufenthaltsort kenne oder ihn bereits gefangen genommen habe.

Stattdessen präsentierte Ussama bin Laden am vergangenen Freitag seine Oktoberüberraschung und äußerte sich zum ersten Mal seit 13 Monaten wieder in einem Video. Der Ton ist außergewöhnlich: »Sicherheit ist eine wichtige Säule des menschlichen Lebens. Freie Menschen verzichten nicht auf ihre Sicherheit.« Das hätte auch einer der beiden US-Präsidentschaftskandidaten sagen können.

Bin Laden präsentiert sich nicht mehr als Krieger mit einer Kalaschnikow als Accessoire, sondern, passender zu seinem fast ergrauten Bart, als seriöser Herr, der mit väterlichen Ratschlägen den Frieden in der Welt fördern will. Statt wüste Drohungen auszustoßen, spricht er über »die Minuten, in denen die Entscheidung fiel«, die Türme des World Trade Centers zum Einsturz zu bringen.

Sein Erweckungserlebnis hatte er angeblich 1982 während des Libanon-Krieges. Beim Anblick »zerstörter Türme« in Beirut sei ihm »in den Sinn gekommen, die Ungerechten (die USA, die den israelischen Einmarsch unterstützten) in gleicher Weise zu bestrafen«. Die Geschichte dürfte erfunden sein. Bin Laden hielt sich 1982 in Afghanistan auf und kooperierte mit der CIA, aber über diese Episode sprechen die beiden Kontrahenten des »Kriegs gegen den Terror« nicht gerne.

Wie in früheren Botschaften stellt bin Laden den Massenmord als legitime Reaktion auf die Politik der USA dar. Deutlicher als zuvor bietet er ein Ende des Terrors an: »Jedem Staat, der unsere Sicherheit nicht bedroht, wird automatisch seine eigene Sicherheit garantiert.« Mit den Anschlägen in Madrid hatte eine Gruppe des al-Qaida-Netzwerks im März den Sieg der Sozialdemokraten gefördert, die die spanischen Truppen aus dem Irak abzogen. So einfach lässt sich dieses Manöver jedoch nicht wiederholen, und bin Laden macht sich keine Illusionen über eine Änderung der US-Außenpolitik nach einem regime change. Er betont, dass die Sicherheit der US-Amerikaner »nicht in den Händen von Kerry, Bush oder al-Qaida liegt«. Das Video dürfte kein Versuch sein, in den Wahlkampf einzugreifen.

In den letzten Monaten kursierten immer wieder Gerüchte, bin Laden sei entmachtet worden. Mit seiner Oktoberüberraschung, die ihn als global player auf Augenhöhe mit der US-Regierung darstellt, will er seinen Führungsanspruch erneuern. Das neue Outfit und der staatsmännische Gestus deuten aber auch darauf hin, dass er sich mit einer veränderten Rolle abgefunden hat. Denn die operative Leitung des terroristischen Netzwerks hat die isolierte Führung um bin Laden längst verloren. Besonders aktive Gruppen wie die für die Anschläge in Madrid verantwortliche Brigade Abu Hafs al-Masri und die im Irak operierende Gruppierung Abu Musab al-Zarqawis hätten zu einer gefährlichen Konkurrenz werden können.

Mitte Oktober erkannte Zarqawi jedoch öffentlich die Führung bin Ladens an. Offenbar hat man sich auf eine neue Machtverteilung geeinigt, die die Handlungsfreiheit der aufstrebenden Terroristenführer nicht einschränkt und bin Laden die Rolle des Paten überlässt. Sein Job ist es nun, mit gütigem Lächeln der Welt zu verkünden, dass al-Qaida eigentlich den Frieden will, während die Killerkommandos sich um das alltägliche Geschäft kümmern.