Streit mit dem Vater

Die Likud-Partei lehnte die Rückzugspläne ihres Ministerpräsidenten Sharon ab, doch viele linke Oppositionelle unterstützen die Abkehr vom Tabu der Siedlungsevakuierung. von michael borgstede, tel aviv

Ideologische Überzeugungsarbeit ist ermüdend. Shlomi Gonen schaut auf seine Liste und seufzt: »Warum müssen Likud-Mitglieder immer im dritten oder vierten Stock wohnen?« Dann atmet er tief ein und betritt das Treppenhaus. Oben angekommen, wischt er sich den Schweiß aus dem Gesicht und klingelt an der Tür. Ein dunkelhäutiger Mann im Bademantel erscheint im Türspalt, Shlomi spult seine Eröffnungsrede herunter: »Guten Tag. Ich bin wie Sie ein Mitglied des Likud und möchte mich mit Ihnen über Sharons Rückzugspläne unterhalten, damit Sie bei der Abstimmung morgen die richtige Entscheidung treffen können.«

Shlomi hat natürlich seine eigene Meinung, was die »richtige Entscheidung« ist, und macht keinen Hehl daraus. »Kannst Du es mit deinem Gewissen vereinbaren, für die Evakuierung von Juden aus unserem angestammten Vaterland zu stimmen?« fragt er den spärlich bekleideten Hausherrn. Shlomi wird lauter: »Wir können den Terroristen doch keinen Preis für ihre Terrorkampagne verleihen!« Der Mann hinter der Tür reagiert verunsichert: »Schon, schon«, wirft er ein. »Aber so viele Juden wohnen in Gaza ja gar nicht, und wenn wir dafür einige Siedlungen im Westjordanland behalten können? Besser Sharon macht es jetzt, als irgendwann die Linken.«

Am vergangenen Sonntag durften die 190 000 Mitglieder der konservativen Likud-Partei ihr Votum über den von Ministerpräsident Ariel Sharon geplanten einseitigen Rückzug aus dem Gazastreifen abgeben. Shlomi Gonens Bemühungen waren erfolgreich, die Mehrheit der Mitglieder hat den Plan abgelehnt. Dabei hatte Sharon nach seiner Rückkehr aus Washington gedacht, die mühsam erhandelten Zugeständnisse George W. Bushs würden die Partei auf seine Linie bringen.

Weil dies nicht gelang, ging der Regierungschef zum Frontalangriff über. In einer außerordentlichen Knesset-Debatte drohte Sharon, er werde sich womöglich auch über die Entscheidung der Likud-Mitglieder hinwegsetzen. Die Abstimmung sei »moralischer Natur«, nicht »legal und bindend«, sagte er vor einem ausnahmsweise voll besetzten Plenum. Wer mit »Nein« stimme, der unterstütze die Hamas und Arafat, warnte er. Seinen Rücktritt schloss er zwar aus, kündigte aber an, es werde »sehr schwer« werden, das Land nach einem derartigen Misstrauensvotum aus den eigenen Reihen zu regieren, und malte damit indirekt das Schreckgespenst vorzeitiger Neuwahlen an die Wand.

Nach der Niederlage ist Sharons Autorität zwar geschwächt, aber er gibt sich kampfbereit und will den Rückzug trotz der verlorenen Abstimmung durchführen. Um seine Mehrheit in der Knesset muss er nicht fürchten. Sollten die radikalen rechten Koalitionsparteien bald ihre Kabinettssessel räumen, stünde die Arbeitspartei vor einer schwierigen Entscheidung.

Offiziell heißt es, man werde der Regierung nicht beitreten, bevor bekannt sei, ob der Generalstaatsanwalt wegen diverser Bestechungsvorwürfe Anklage gegen Sharon erheben werde. Der ehemalige Knesset-Sprecher Avraham Burg von der Arbeitspartei gibt sich jedoch skeptisch: »Peres und Ramon werden argumentieren, dass wir vor einer historischen Chance stehen und sie nicht ungenutzt lassen sollen.« Im Likud hofft man auf eine Spaltung der Arbeitspartei, die durch die letzte »Koalition der nationalen Einheit« stark geschwächt wurde. Eine Wiederauflage des Bündnisses würde die Partei vielleicht nicht überstehen.

Das arg geschrumpfte Wählerpotenzial der Linksparteien beäugt Sharons Initiative mit ungläubigem Wohlwollen. Im Gegensatz zu den europäischen Kommentatoren, die nach Sharons Besuch in Washington das Ende des Friedensprozesses beschworen, sieht man in Israel die Möglichkeit, das Tabu der Siedlungsevakuierung zu brechen. Ein Teilrückzug könne die Bevölkerung auf die unvermeidlichen Konzessionen vorbereiten, die für einen dauerhaften Frieden nötig seien, hoffen viele Anhänger einer umfassenden Verhandlungslösung.

Den Weg dazu habe Bush mit seiner Unterstützung für Sharons Pläne (Jungle World, 18/04) keineswegs verstellt. Es wäre Aufgabe einer palästinensischen Führung gewesen, ihrer Bevölkerung zu vermitteln, dass ein generelles Recht zur Rückkehr nach Israel utopisch ist. Über die Annexion einzelner Siedlungsblöcke im Rahmen eines gerechten Landtausches wurde schon in Camp David verhandelt, und dass Sharon als »Vater der Siedlungsbewegung« nun 7500 Siedler aus dem Gazastreifen evakuieren will, wird auch von den Linken als ein Schritt in die richtige Richtung gesehen.

Für die Palästinenser stellt sich die Situation weniger hoffnungsvoll dar. Sie fürchten, Sharon könne für die Evakuierung des Gazastreifens große Teile des Westjordanlandes annektieren. Ein Abgeordneter des palästinensischen Legislativrates hält die Garantien des US-Präsidenten gar für eine »riesige Katastrophe in der Größenordnung der Nakba von 1948«. Sharons gesamte Politik sei auf Eskalation ausgelegt. »Die Liquidierung Yassins und Rantisis hat uns als säkulare und gemäßigte Partei zur Solidarität mit islamistischen Extremisten gezwungen«, beschwert er sich. Die Straße vor seinem Büro ist kaum befahrbar. »Das liegt zum einen daran, dass wir kein Geld für Reparaturen haben, zum anderen daran, dass die israelischen Panzer in den letzten drei Jahren eh jede Reparatur sinnlos gemacht hätten.«

Im Zentrum von Ramallah sitzen einige schlecht rasierte ältere Männer vor einem Kaffeehaus, schlürfen süßen arabischen Kaffee und rauchen Wasserpfeife. Sie halten nichts von irgendwelchen Rückzugsplänen. Zu oft schon haben sie sich Hoffnungen gemacht und sie sogleich wieder aufgeben müssen. »Ich glaube niemandem mehr«, sagt Nabil. »Nicht Sharon, nicht Arafat und schon gar nicht dem Bush.«

»Geschieht ihm recht, was da jetzt im Irak passiert«, murmelt ein anderer und lässt langsam den Qualm aus seinem Mund entweichen. Für die ältere Generation wurde der Friedensprozess zu einer emotionalen Achterbahn. Irgendwann bleibt man lieber als Zuschauer unten sitzen und geht es ruhig an. Würden sie sich denn über einen Rückzug aus dem Gazastreifen freuen? »Gaza ist weit weg«, sagt Nabil. Sein Nachbar ist weniger diplomatisch: »Im Gazastreifen – da leben ganz andere Menschen als wir. Ehrlich gesagt: Mit den meisten dort habe ich nicht viel gemeinsam.« Dann fügt er schnell hinzu: »Außer unserem gemeinsamen Kampf gegen die Besatzung natürlich.«

Um die Ecke spielen einige Kinder. Das Spiel heißt »Mutter und Kind«. Einen Vater gibt es in der palästinensischen Variante nicht. Er sitzt in Administrativhaft, wie die kleine Suhar freundlich lächelnd erklärt. Der zwölfjährige Mohammed lässt sich zu einer spontanen Hasstirade gegen »die Juden« hinreißen. Söhne und Töchter von Hunden und Schweinen seien das, meint er. Das stehe schon im Koran, habe der Lehrer gesagt. Er jedenfalls werde bis ans Ende seines Lebens kämpfen. Ein unangenehmer Gedanke schleicht sich heran: Hoffentlich liegt dieses Ende noch in weiter Ferne.

Die Menschen in Palästina sind hoffnungs- und hilflos. Eine Umfrage nach der Ermordung von Sheikh Yassin hat jüngst ergeben, dass die Hamas im Falle von Wahlen mit mehr Stimmen rechnen könnte als Arafats Fatah-Partei. 75 Prozent der Palästinenser sprachen sich für die Fortsetzung der Selbstmordattentate aus, doch gleichzeitig meinten etwas mehr als 50 Prozent, die Intifada sei nicht in ihrem Interesse. Die Aussagekraft solcher Zahlen ist begrenzt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Zahl der Terrorunterstützer sich beim geringsten Aufflackern der Hoffnung auf einen Friedensprozesses halbiert. Doch wann die Hoffnung wieder einmal aufflackert, steht momentan noch in den Sternen.