Oh du schöne Maienzeit

Mehr Aktionen, weniger Teilnehmer, eine neue Friedlichkeit, zu viele Neonazis, größere Bündnisse. Das Fazit nach dem 1. Mai fällt uneinheitlich aus

Sterne im Mai

In Berlin begann der 1. Mai wieder einmal am 30. April. Und zwar mit einer Demonstration gegen die EU. »Diese Demonstration ist nicht gegen Osteuropa gerichtet, sondern gegen die europäische Identität, hinter der der Konflikt von Arbeit und Kapital verschwindet. Die EU ist kein alternatives Globalisierungsmodell.« Das stellte ein Sprecher der Gruppe Kritik und Praxis (KP) klar, bevor sich am vergangenen Freitag etwa 1 500 Menschen aufmachten, um gegen die offiziellen Weihen zu protestieren, mit denen an diesem Tag in Berlin der Aufstieg zehn europäischer Länder zu Mitgliedern der Europäischen Union gefeiert wurde. Während auf dem Gendarmenmarkt die Sektkorken knallten, wurde andernorts von der Polizei bereits gläsernes Gefahrwurfgut eingesammelt.

Da sowohl die Veranstalter als auch die Ordnungshüter mit mehr Teilnehmern an der Demonstration gerechnet hatten, war der grün-weiße Block besonders stark. Damit ihnen auch keine Nuance des Gegenprogramms unter dem Motto »Kommunismus statt Europa« entging, durchsuchten die Polizisten stundenlang Rucksäcke nach zusätzlichen Informationen. Unter den Linden stand die Polizei mit Räumpanzern und Wannen, sodass sie und nur sie Transparente wie »Gegen Volk, Staat und Nation« lesen konnte. Ganz schön egoistisch.

Dennoch dürften einige Klangfetzen der Redebeiträge die Absperrungen überwunden haben. Dabei wurde die Kritik am Modell der EU sehr unterschiedlich begründet. Die veranstaltende KP und die PostpessimistInnen wandten sich vor allem gegen die neoliberale Politik und das europäische Grenzregime, das sich mit der Ost-Erweiterung lediglich verschoben habe. »Die EU ist kein alternatives Globalisierungsmodell, sondern lediglich eine Einbindung in die amerikanische Sichtweise«, sagte einer der KP-Redner.

Die Gruppe »Jimmy Boyle«, die sich dem Demoaufruf angeschlossen hatte, sah das anders. Diese Analyse stehe dem Denken der bürgerlichen Linken noch zu nahe. »Reformistisch« nannte ein Vertreter von »Jimmy Boyle« die Argumentation der Veranstalter. Auf den Handzetteln, die er verteilte, wurde gefordert, dass eine Kritik an Europa sich nicht auf eine bestimmte Politikrichtung beschränken dürfe, »sondern von den Bewegungsgesetzen des Kapitals aus, denen eine jede Politik unterworfen ist«, gedacht werden müsse.

Die Demonstration selbst bewegte sich eher schleppend. Die wenigen Menschen, die ab und zu an den Fenstern zu sehen waren, amüsierten sich vor allem über die FDJler, die mit einer sehr ambitionierten Forderung antraten: »Umsetzung des Potsdamer Abkommens. Jetzt!« Was war wohl damit gemeint? Vielleicht die in dem Abkommen beschlossenen Demontagen in der deutschen Industrie?

Aber auch die FDJ konnte nicht verhindern, dass die Polizei die Demonstration gegen halb neun am Rosenthaler Platz für beendet erklärte. Die Autonome Antifa Nordost Berlin (AANO) verteilte noch schnell ein paar Flyer, damit auch niemand den Fahnenstreit vergisst.

Der Bundesgrenzschutz scheint solche Identitätsprobleme nicht zu kennen. Zwei der Grenzschützer hatten ihre Schlagstöcke mit schwarz-rot-goldenen bzw. schwarz-weiß-roten Farbstreifen geschmückt. »Um die Gruppe zu markieren«, hieß es. Einem Einsatzleiter war indes nichts von solchen Unterscheidungen bekannt. Dann fügte er schnell hinzu: »Aber ausschließen würde ich es nicht.« Ein Schlagstock mit Sternen auf blauem Grund wurde nicht gesichtet.

nils brock

Im Sommerschlaf

Er ist kein großer Redner. So sehr sich der DGB-Vorsitzende Michael Sommer auch bemüht, so sehr er auch ins Mikrophon brüllt, der Funke springt nicht über. Müde klatschen die Zuhörer vor dem Roten Rathaus in Berlin, wo die Abschlusskundgebung der Demonstration des DGB stattfindet. 25 000 Menschen sollen es sein, die zwischen den Buden und Infoständen umherschlendern. Es sieht nach viel weniger aus.

Sommer hört sich so an, als hätte man ihn zu der Rede treiben müssen. Wenn er radikal klingen will, fühlt man sich peinlich berührt, etwa wenn er zum Kampf für den 1. Mai aufruft: »Der 1. Mai ist ein gesetzlicher Feiertag für die arbeitenden Menschen, und er wird es bleiben. Allen Politclowns, die es ja auch in Berlin gibt, zum Trotz.« Seine Kritik an der Politik der Bundesregierung gipfelt in dem bösen Satz: »Die Agenda 2010 ist zum Synonym für die Zweidrittelgesellschaft geworden.«

Wenn Sommer der Regierung droht, wird er unkonkret und diffus: »Es gibt in diesem Land eine Regierung, die ganz offensichtlich meint, die Massenproteste vom 3. April ignorieren zu können. Dieser Regierung sage ich: Wir werden nicht Ruhe geben, bis Sie endlich zur Besinnung kommen.« Man wolle »weiter protestieren, bis es endlich wirklich besser wird, und zwar für die Masse der Bevölkerung«.

Andere Passagen seiner Rede hinterlassen den Eindruck, die Bundesregierung sei gar nicht der größte Gegner in der gegenwärtigen Auseinandersetzung. »Wir wollen soziale Gerechtigkeit in der gesamten Europäischen Union«, fordert Sommer. »Um es auf den Punkt zu bringen: Weder in Fragen von Krieg und Frieden noch in punkto Arbeit oder in der Gesundheits- und Rentenpolitik sind die USA ein Vorbild für uns. Im Gegenteil.« Was soll man tun? George W. Bush abwählen, um den Sozialstaat in Deutschland zu retten?

Immer wieder beschwört Sommer die Vision eines irgendwie sozialeren Europa. »Wenn es uns nicht gelingt, aus unserem Europa mehr zu machen als ein Eldorado für Spekulanten und Finanzjongleure, also den Shareholder-Value-Kapitalismus, dann ist es auch mit der demokratischen Stabilität nicht weiter her.« Auf der einen Seite steht bei Sommer der ehrliche Arbeiter, dem der gerechte Lohn vorenthalten werde, auf der anderen Seite stehen die Spekulanten und die Finanzwelt. Eine Kritik am kapitalistischen System, daran, dass Lohnarbeit immer Ausbeutung ist, eine Kritik am Begriff der Arbeit ist seine Sache verständlicherweise nicht.

So sehr Sommer auch betont, dass die Gewerkschaften ausdauernd seien in der Auseinandersetzung über den Sozialabbau, einen Vorschlag, wie etwa mit den geplanten Arbeitszeitverlängerungen im öffentlichen Dienst umgegangen werden soll, macht er nicht. Man wolle die Auseinandersetzung sowohl »in die Gesellschaft als auch in die Betriebe tragen«, verkündet er nebulös. Doch das dirty word fehlt in seiner Rede: Streik. Der Vorsitzende der IG Metall, Jürgen Peters, wird auf einer Kundgebung in Mannheim konkreter. Man wolle eine Unterschriftenaktion gegen die Politik der Bundesregierung durchführen, verkündet er. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Wer so kämpft, auch.

Dass der DGB weiß, welche gesellschaftliche Aufgabe er zu erfüllen hat, nämlich den sozialen Frieden zu bewahren, egal wie die Bundesregierung mit den Arbeitslosen und wenig Verdienenden umspringt, stellt er auch im Umgang mit seinen linken Kritikern unter Beweis. So soll die Demonstrationsleitung des DGB in Berlin die Polizei aufgefordert haben, Mitglieder der Freien ArbeiterInnen Union (FAU) von der Demonstration fernzuhalten. Das behauptet zumindest die FAU. Die Beamten kesselten vorübergehend einige Mitglieder der FAU ein.

Ähnliches soll sich auch in Hamburg zugetragen haben. Dort soll nach Informationen der FAU der DGB die Polizei aufgefordert haben, die »Sozialrevolutionäre 1. Mai-Demo« so lange aufzuhalten, bis sämtliche Teilnehmer einer Demonstration des DGB abmarschiert waren. »Wir hatten die polizeiliche Auflage, die DGB’ler nicht mit unserer Agitation zum Mitmarschieren in unserer Demo zu bewegen«, behauptet die FAU in einer Erklärung.

stefan wirner

Steine im Mai

Hätte es nur die Revolutionäre Maidemo gegeben, müsste das Bündnis act! den diesjährigen 1. Mai als schwere Niederlage bewerten. Höchstens 4 000 Menschen folgten dem Ruf des Demonstrationsbündnisses in Berlin. Dabei waren die Erwartungen hoch.

Der Grund für die geringe Teilnehmerzahl waren einerseits die lange dauernden Straßenkämpfe in Friedrichshain, wo Antifas erfolgreich gegen den Aufmarsch von rund 2 000 Neonazis vorgingen. Andererseits scheint der inhaltliche Stillstand der Szene, der sich in immer denselben Parolen und Transparenten zeigt, zu einer gewissen Erschöpfung zu führen. Vielleicht war auch vielen das Bündnis suspekt, in dem sich höchst fragwürdige Gruppen tummelten. Als bei der Abschlusskundgebung dieses Bündnis und jenes der winzigen Demonstration von Maoisten und Stalinisten sogar noch eine gemeinsame Erklärung vorlasen, dürfte auch dem Letzten gedämmert haben, dass inhaltlich eher ein Rückschritt stattfindet.

Vielleicht ging auch das Konzept der Polizei auf. Das jedenfalls möchte sie gerne glauben machen. Im Polizeibericht heißt es: »Insgesamt führte der Einsatz zur Zersplitterung der linken Szene, sodass an den Revolutionären Maidemonstrationen weit weniger Personen teilnahmen und eine gewisse Resignation zu verzeichnen war.«

Doch dieser 1. Mai bestand nicht nur aus der Demonstration und der ausgefallenen Straßenschlacht in Kreuzberg. Wesentlich erfolgreicher verliefen die beiden Aktionswochen vor dem 1. Mai unter dem Motto »Mai-Steine«. Zwar waren auch hier die Teilnehmerzahlen eher gering, doch gelang es act!, mit einigen der Aktionen in die Medien zu gelangen und dabei sogar Inhalte zu vermitteln.

Das lag wohl daran, dass es um sehr konkrete Dinge ging. Eine handliche, schön gemachte und massenhaft verteilte Broschüre mit kurzen Texten zu jeder Aktion ermöglichte einen Überblick über die Anliegen der Aktivisten. Die Proteste richteten sich vor allem gegen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und den Sozialabbau. Der Versuch, umsonst in die in Berlin gastierende Ausstellung des Museum of Modern Art (MoMA) zu gelangen, machte die Forderung »Alles für alle und zwar umsonst!« bekannter. Gleichzeitig war der positive Bezug auf eine amerikanische Kunstausstellung für die teilweise doch recht antimoderne Linke ein Fortschritt. Auch wenn die Klage, dass der Eintrittspreis für das MoMA zu hoch sei, hinter den Sorgen eines Zahnarztpatienten, sein Gebiss nicht mehr bezahlen zu können, ein wenig lächerlich erscheint.

fabian sänger

Die Schande von Berlin

Niemand erzählt Geschichten darüber, wer was zu den »Bullen« gesagt habe, weil sie sinnlos eine Straße und damit den Weg wohin auch immer versperrten. Zwar ist es ziemlich voll am Görlitzer Bahnhof, überall Menschentrauben und Polizeiketten. Doch wer von der Wiener in die Oranienstraße spazieren will, muss allenfalls zehn Meter Umweg in Kauf nehmen, um eine Lücke im Grün zu finden. Lediglich an der Bezirksgrenze wird ein Kollege auf dem Weg nach Kreuzberg kurz aufgehalten und bekommt den freundlichen Tipp, sich »von den Tumulten« fernzuhalten.

Die Gespräche vor den Kneipen drehen sich um das, was nicht ist. »Jetzt geht es los.« »Quatsch, das würde man mitbekommen.« »Jetzt aber.« »Hmm, doch nicht.« Die Hälse recken sich, wenn eine Wanne wendet. Dann werden die Köpfe wieder eingezogen. »Öfters mal Plus machen«, steht auf einem Transparent. Aber daran ist gar nicht zu denken.

Ein Freund berichtet von leichter Bewegung am Heinrichplatz. Er muss sogar während des Telefonats kurz von der Bordsteinkante aufstehen, damit ihm niemand auf die Füße tritt. Trotz eines erstklassigen Sitzplatzes kann er seine Enttäuschung nicht verbergen. Später brennt eine Barrikade in der Oranienstraße, eine Bekannte muss mehrere Minuten lang in einer türkischen Bäckerei ausharren.

In der Dresdner Straße verprügeln Zivilpolizisten einen Mann, der bereits am Boden liegt. Andere stehen drum herum. Ein Jugendlicher mit trendy Kopftuch versucht zu provozieren: »Jetzt habt ihr einen. Aber was ist mit den Kinderschändern?« Wenig später fliegt von oben eine Flasche. Eine Frau wird getroffen und muss von Sanitätern versorgt werden.

Um 1.45 Uhr räumen Wasserwerfer die Adalbertstraße, dahinter drängen mehrere Polizeiketten die übrig gebliebenen Menschen am Rand Richtung Kottbusser Tor. Es wird diskutiert, aber nichts passiert. Ein engagierter Kollege stellt die Polizeieinheit 122 zur Rede. »Warum machen Sie das?«, will er wissen, lässt sich nicht abschütteln und wedelt hartnäckig mit seinem Presseausweis. »Das ist nicht richtig, was Sie da tun, das ist Eskalation!« Ein Polizist schreit sichtlich entnervt: »Gehen Sie weg!« und weicht selbst ein wenig zurück. Dann dreht sich die ganze Kette auf Kommando um und läuft wieder zurück in die Adalbertstraße. Die Mitglieder der Einheit 121 sind etwas robuster und halten die Stellung auf der leeren, nassen Straße.

Eineinhalb Stunden später gehören die Straßen der BSR. All die schönen Scherben, die Bierdosen und der andere Müll sind schnell weggefegt. Der Traum eines Punks mit der Aufschrift »Deutschland verdrecke« auf dem T-Shirt ist aus. Schon parken wieder die ersten Autos in der Oranienstraße. Nur die kokelnden Reste einer Mülltonne erinnern daran, dass der Revolutionäre 1. Mai zu Ende gegangen ist und nicht der Christopher Street Day.

Die Fotos in den Zeitungen am nächsten Tag zeugen nicht von heroischen Kämpfen, sondern von Festnahmen, bei denen »jugendliche Randalierer« weggeschleift werden wie erlegtes Wild. Die Polizeisprecherin zieht eine positive Bilanz, Lob für die tolle Polizeitaktik kommt sogar aus der CDU. Was sollen nur die TouristInnen denken, die einen weiten Weg auf sich genommen haben, um an diesem Abend in der Stadt zu sein?

Dem Spektakel sind die Akteure ausgegangen. Es ist eine Schande.

anna gärtner