May Day in Polen

Zum ersten Mal traf sich die Politik- und Wirtschaftselite der EU in Osteuropa, um ihr Europäisches Wirtschaftsforum abzuhalten. Proteste und Polizeipräsenz prägten das Bild. von marc zoller und joel vogel, warschau

Warschau sah in der letzten Aprilwoche aus wie eine belagerte Stadt. Tausende von Polizisten, vermutlich waren es alle Einsatzkräfte, die Polen zu bieten hat, fuhren in ihren neu erworbenen VW-Transportern in Kolonne durch die Stadt. Mit Blaulicht und Sirenen, versteht sich. Ordnungshüter ohne Autos standen an Kreuzungen und passten auf, dass Fußgänger die Straße nicht bei Rot überquerten. Tatsächlich sollten sie die Stadt vor dem brutalen Mob schützen, vor dem die Regierung und die örtliche Presse seit Wochen warnten: vor den »Antyglobalisci«.

Warschau war von Mittwoch bis Freitag der Ort des Europäischen Wirtschaftsforums (EWF), des jährlichen Treffens von führenden Vertretern aus Politik und Wirtschaft, die sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit über zukünftige Strategien verständigten. In diesem Rahmen wurde über die Rolle des privaten Unternehmertums, über Rentenprivatisierung und Arbeitsmarktreformen sowie über Sicherheits- und Außenpolitik diskutiert.

Für die polnische Regierung war die Ausrichtung des Gipfels von großer Bedeutung. Am Vorabend des EU-Beitritts konnte sie sich so als Gastgeberin profilieren. In der Bewerbung Warschaus um die regelmäßige Austragung des EWF hatte man eine fehlende Opposition als Standortvorteil laut gepriesen. Als bekannt wurde, dass die polnische anarchistische Szene zu Protesten mobilisierte und ein alternatives Wirtschaftsforum organisierte, wurden umfassende Maßnahmen ergriffen, damit der Warschauer Werbung nicht der Boden entzogen werde. Tatsächlich hätten Bilder nach dem Vorbild von Genua oder Göteborg die Erfolgsmeldungen über die Ankunft in der europäischen Realität geschmälert.

Mit der Verkündung von Erfolgen der europäischen Politik hat es die polnische Regierung ohnehin schwer. Zu offensichtlich sind die herben sozialen Einschnitte, die weite Teile der Bevölkerung im Zuge der Umstrukturierungen nach EU-Diktat hinnehmen sollten und die zu großen Einkommensunterschiede führten. Außerdem lassen die Vorteile des Beitritts auf sich warten. Verantwortlich dafür sind die großzügigen Übergangsregelungen und Sperrklauseln zugunsten der alten EU-Länder in Sachen Migration und Arbeit.

Die Folgen des EU-Beitritts wurden auch im Rahmen des alternativen Wirtschaftsforums thematisiert. Das Forum beschränkte sich nicht auf eine Beschreibung der negativen Auswirkungen beispielweise auf die Arbeitssituation. Der Gegengipfel versuchte »Alternativen zum gängigen ökonomischen Dogma vorzustellen«, wie Laure, eine Mitorganisatorin, sagte. So fanden Veranstaltungen über Bauernproteste und Möglichkeiten der betrieblichen Selbstorganisation von ArbeiterInnen statt, die in Polen auch auf praktische Erfahrungen zurückgreifen können.

Wohl auch mit Blick auf mögliche unzufriedene Reaktionen der eigenen Bevölkerung fielen Repression und Propaganda gegen den geplanten Gegengipfel samt Demonstration drastisch aus. Die Bilder vom Gipfelsommer 2001 in Göteborg und Genua liefen in den Medien schon Wochen vorher ständig, begleitet von der Behauptung, der seither im globalisierungskritischen Urlaub verschwundene Terrormob werde sich pünktlich in Warschau zurückmelden.

Die dazugehörige staatliche Repression stellte OrganisatorInnen wie TeilnehmerInnen des alternativen Forums vor ernsthafte Probleme: Veranstaltungsorte wurden kurzfristig abgesagt, weil die BetreiberInnen von politischer Seite unter Druck gesetzt wurden. Einige AktivistInnen in Warschau und anderen Städten Polens bekamen im Vorfeld Besuch von Uniformierten. Den BewohnerInnen eines besetzten Hauses wurde mit Räumung gedroht, sollten sie sich an den Protesten beteiligen. Aus anderen Ländern anreisende Personen wurden erst gar nicht über die Landesgrenze gelassen. Mehreren Menschen aus Berlin, zwei litauischen Staatsbürgern sowie den Passagieren eines Reisebusses aus Ungarn wurde die Einreise verweigert. Die europäische Zusammenarbeit mit den Beitrittsländern funktioniert in einigen Bereichen schon prächtig.

Derweil zeitigte die Panikmache in Warschau Folgen. Nachdem offensichtlich ein Ausverkauf von Spanplatten und anderem Bauholz stattgefunden hatte, glich die Stadt am vergangenen Donnerstag – am Tag der Demonstration – einer Mischung aus Baustelle und Wildwest-Geisterstadt. Nicht nur entlang der angemeldeten Demoroute, sondern kreuz und quer durch die Stadt waren Unternehmen vom Zigarettenkiosk bis zur Großbank vernagelt, abgedeckt, verriegelt und verbarrikadiert worden. Ganz auf Nummer sicher gehen wollten die Betreiber der größten Filiale einer bekannten US-Fastfoodkette in der Warschauer Innenstadt. Das Lokal verschwand komplett hinter einer fünf Meter hohen Blechwand mit darüber gespannten Fangnetzen.

Die Demonstration verlief quer durch die Innenstadt entlang der großzügig angelegten »roten Zonen«, zu denen die gesamte Öffentlichkeit während des Gipfels keinen Zutritt mehr hatte. Die Polizeipräsenz war erwartungsgemäß massiv. Im Widerspruch zu ihrem martialischen Auftritt verhielt sich die Polizei jedoch weitgehend passiv und beschränkte sich auf den Objektschutz. Auch die Demonstrationsleitung drängte mehrfach darauf, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Ein von den VeranstalterInnen eigens aufgestelltes »Legal Team« zur juristischen Unterstützung der TeilnehmerInnen musste kaum in Aktion treten.

Zu allseitiger Verwunderung verlief die Kundgebung, abgesehen von einem kurzen Beschuss der teilnahmslosen Beamten mit Klopapierrollen, ohne besondere Vorkommnisse. Enttäuschte BerlinerInnen machten sich schnell auf den Weg nach Hause, in der Hoffnung, dass am 1. Mai dort noch etwas gehe.

Über die Bewertung der gesamten Aktion gingen die Meinungen auseinander. Einen »großen Propagandaerfolg« nannte Laure die Demonstration. Gemeint ist damit einerseits die zunehmende Beteiligung der Warschauer Bevölkerung und andererseits die in Erwartung von Krawallen massiv vertretene Presse. Diese wandte sich, um ihre Story betrogen, gegen die Organisatoren des Sicherheitsaufgebots. Ob das Bild der netten, bunten Jugendlichen allerdings dasjenige der gefährlichen Terroristenfreunde dauerhaft verdrängt hat, wird sich spätestens nächstes Jahr zum WEF zeigen, wenn Warschau seine Friedfertigkeit erneut unter Beweis stellen kann.

Das Spektakel, das keines war, fand seinen vorläufigen Abschluss in der Nacht zum 1. Mai mit einem müden Festakt zum EU-Beitritt Polens in der Warschauer Innenstadt. Dem aufgebotenen Pomp samt Kirchenvertretern, Militärmarsch und Fahne im Rampenlicht stand ein etwas mager geratenes und in Teilen alkoholisiertes Publikum gegenüber. Eine Störaktion mit Trillerpfeifen mochte trotz beträchtlicher Lautstärke keine Abwehrreaktion der Polizei oder des Publikums zu provozieren. Ohne Rücksicht auf EU, Chaoten, Globalisierung oder EWF ging es gegen halb eins ganz prosaisch nach Hause.