Streik macht Pause

Während die Protestbewegungen nachlassen, erhöht die Regierung Raffarin den Druck auf die Beschäftigten. von bernhard schmid, paris

Auch so kann Widerstand aussehen. Der sozialliberale Gewerkschaftsbund CFDT steht vor einer enormen Austrittswelle. Damit erhält der Gewerkschaftsverband die Quittung für seine Unterstützung der konservativen Regierung von Jean-Pierre Raffarin. Die Führung des Dachverbandes orientiert sich am Vorbild der deutschen Gewerkschaften und der Sozialpartnerschaft. Während im Frühjahr eine große Streikwelle das Land überzog, unterstützte die CFDT die Regierungspläne zur Rentenkürzung und stellte sich damit gegen die soziale Bewegung. Für die Mehrheit der Linksopposition in der CFDT ist damit der Zeitpunkt gekommen, zu gehen. Gerechnet wird damit, dass 100 000 der rund 600 000 Mitglieder die CFDT verlassen werden.

Wie groß die Bereitschaft zum Austritt ist, wurde auf einer außerordentlichen Delegiertenkonferenz der Eisenbahner- und Transportarbeitergewerkschaft innerhalb der CFDT vor zwei Wochen deutlich. Die Branchengewerkschaft FGTE ist eine der Hochburgen der innergewerkschaftlichen Opposition. Im Gegensatz zum Dachverband nahm sie an den Streikbewegungen sowohl im Frühjahr als auch bereits im Herbst 1995 teil. Beraten wurde nun unter anderem ein kollektiver Austritt des Branchenverbands aus dem Gewerkschaftsbund. Das Risisiko, an der dafür nötigen Dreiviertelmehrheit zu scheitern, wollten die Transportgewerkschafter allerdings nicht eingehen. Nun soll jede der 118 Einzelgewerkschaften, aus der sich die FGTE zusammensetzt, für sich über den Austritt entscheiden. Viele Mitglieder kehren dem Verband aber bereits individuell den Rücken.

Zwar erlebt Frankreich derzeit eine Umgruppierung der gewerkschaftlichen Landschaft, bei der vor allem der sozialpartnerschaftlich orientierte Flügel der Gewerkschaften geschwächt wird. Doch ein Anwachsen der sozialen Kämpfe und Konflikte geht damit nicht einher. Vielmehr fällt die Austrittswelle bei den Gewerkschaften zeitlich in die Flaute, die nun auf die starken sozialen Bewegungen vom Frühsommer folgt.

Hingegen geht der Protest der prekär beschäftigten Kulturschaffenden weiter. Die intermittents, denen die Arbeitslosenhilfe drastisch reduziert werden soll, mobilisieren nach wie vor zu Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern oder stören Theater- und Konzertaufführungen. Auch phantasievolle Aktionen kommen nicht zu kurz: Mitte September erkletterten einige die Fassade vom neuen Hauptsitz des Arbeitgeberverbands Medef. Die Hausherren hatten alle Mühe, die mit Transparenten ausgestatteten Gäste wieder loszuwerden. Vergangene Woche gelang es einer Hand voll intermittents, sich unerkannt in ein Kolloquium in Toulouse mit dem Medef-Vorsitzenden einzuschleichen. Eine junge Frau stellte die unschuldige Frage, ob der Medef nicht »eine Gesellschaft ohne jede Solidarität, mit einem Höchstmaß an Prekarität« anstrebe. Das folgende brutale Eingreifen des Ordnungsdienstes sorgte für unerwartete Solidarisierungseffekte im Publikum.

Doch der Ausstand der intermittents ist mittlerweile gesamtgesellschaftlich weitgehend isoliert. Während des Sommers bestanden noch Verbindungen zu den sozialen Bewegungen in vielen anderen Bereichen. Dadurch sollte eine korporatistische Verengung auf reine Berufsgruppeninteressen vermieden werden. Eine übergreifende Bewegung ist derzeit noch nicht in Sicht.

Gründe dafür gibt es viele. So werden die Lehrer und Lehrerinnen, die sich im Frühsommer besonders stark in der Streikbewegung engagierten, inzwischen von der Verwaltung finanziell unter Druck gesetzt. Da es in Frankreich zumeist keine Streikkassen gibt, bedeutet eine Arbeitsniederlegung für die Beschäftigten meist den Verlust von Lohn oder Gehalt. Viele Lehrer müssen nach den Streiks im Frühjahr auf bis zu zwei Monatsgehälter verzichten. Traditionell wurden solche Gehaltsabzüge im öffentlichen Dienst bisher über einen längeren Zeitraum gestreckt. Die jetzige Regierung aber hat sich im Sommer entschieden, keinerlei Konzessionen zu machen, sondern »das Gesetz in seinem Wortlaut anzuwenden«. Seit Juli oder August sind daher viele Lehrer mit Abzügen bis 1 500 Euro konfrontiert, und zumindest wer eine Familie ernähren muss, hat daran schwer zu schlucken.

Auch die Beschäftigten der Privatwirtschaft lassen sich derzeit kaum mobilisieren. Immer wieder appellierten im Frühjahr die streikenden Angestellten aus dem öffentlichen Dienst an die Beschäftigten, sich den Streiks anzuschließen. Tatsächlich bildete sich auch in der Privatindustrie ein harter Kern von Streikbereiten. So nahmen etwa in Paris auch Abordnungen aus den Automobilwerken von Renault, Peugeot oder Citroen an den Demonstrationen teil. Beim Reifenhersteller Michelin in Clermont-Ferrand verließen im Juni 400 Arbeiter während der Schicht ihre Arbeitsplätze und versammelten sich zu einer eigenen Demonstration – ein großer Schritt angesichts der besonders harten Repressionspraxis in dem paternalistisch geführten Unternehmen.

Doch gerade in der Privatindustrie setzt der Anstieg der Arbeitslosigkeit diejenigen, die noch einen Job haben, unter Druck. Für Ende des Jahres wird erwartet, dass die Erwerbslosenrate die Zehnprozentmarke überschreitet, wie zuletzt 1999. Hinzu kommt, dass sich der Umgang mit Erwerbslosen in den letzten Monaten drastisch verschärft hat. So werden 800 000 bis 850 000 Arbeitslose in den nächsten Monaten aus der Arbeitslosenkasse Unedic herausfallen. Das ist die Folge eines Abkommen, das ein Teil der Gewerkschaften, darunter die CFDT, im Dezember vergangenen Jahres fast unbemerkt von der Öffentlichkeit unterzeichnete.

Wer von der Arbeitslosenhilfe ausgeschlossen wurde, erhielt bisher die so genannte »Spezifische Solidaritätsleistung« (ASS), eine staatliche Stütze mit fester Bezugshöhe. Doch die Regierung Raffarin entschied im Spätsommer, dass sie für die erwarteten zusätzlichen Anspruchsberechtigten nicht aufkommen wolle. »Man kann nicht ewig die Arbeitslosigkeit bezahlen«, bemerkte Sozialminister François Fillon im Interview mit der Sonntagszeitung JDD trocken. Die ASS wurde auf zwei bzw. drei Jahre Bezugsanspruch begrenzt. Hunderttausende werden damit in die Sozialhilfe abrutschen.

Und auch die ist nicht mehr, was sie einmal war. Vom kommendem Jahr an heißt sie RMA, »Mindestaktivitätsbezug«. Sozialhilfeempfänger sollen gezwungen werden, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Der Verdienst von ca. zwei Euro pro Stunde soll mit der Sozialhilfe verrechnet werden.

Immerhin haben inzwischen die Arbeitslosen begonnen, sich zu wehren. Ihre Aktionen werden wie schon bei den Arbeitslosenprotesten im Winter 1997/98 von einer kleinen selbst organisierten Minderheit getragen. In den vergangenen Wochen besetzten sie eine Reihe von örtlichen Arbeitslosengeld-Kassen. Und es sieht ganz danach aus, dass sich diese Proteste ausweiten werden.