Es gibt kein Halten mehr

Die paritätische Krankenversicherung, die Tarifautonomie und sogar das Grundgesetz: Alles steht in Frage, da nichts Soziales bleiben soll in Deutschland. von philipp steglich

Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hatte sich den passenden Zeitpunkt ausgesucht. Just als der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, dessen Auslöser eine zehnprozentige Normerhöhung gewesen sein soll, mit allem deutschnationalen Tamtam gefeiert wurde, schlug der Minister vor, gesetzliche Feiertage zu streichen, um die Wirtschaftsleistung zu erhöhen. War es ein Test? Wollte er wissen, wie sich die arbeitenden Massen verhalten würden?

Aber von der Arbeiterschaft kam keine Reaktion. Ganz im Gegensatz zur öffentlichen Prominenz und zu den Medien, denn diese fassten Clements Idee als Steilvorlage auf und phantasierten munter weiter. Der Präsident der Industrie und Handelskammer (IHK), Ludwig Georg Braun, forderte 500 Stunden unbezahlte Arbeit zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Niedersachsens neuer Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) meinte in der Oldenburger Nordwest Zeitung: »Bei allem Respekt vor der Tarifautonomie – aber eine oder zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche ohne Lohnausgleich sind zumutbar, wenn damit der Arbeitsplatz gesichert werden kann.«

Allein der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) weist darauf hin, dass das wirtschaftsstarke, katholische Bayern mit 14 Feiertagen die meisten hat. Dagegen befindet sich das Land Berlin mit nur neun Feiertagen in einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage. Dabei treibt Stoiber selbstverständlich weniger der soziale Gedanke als das zu erhaltende »Mir san mir-Gefühl« der Bayern um, das der CSU schon immer kräftig nützte.

Jeder Vorschlag, wie die sozialen Rechte der Bevölkerung eingeschränkt werden könnten, wird momentan für wert befunden, ernsthaft diskutiert zu werden. »Im Ansatz richtig«, heißt es meist. Will man zunächst »nur« einige Feiertage streichen, so wird kurze Zeit später gefordert, die Wochenarbeitszeit unentgeltlich um drei Stunden zu verlängern. Nur an der Richtung der Vorschläge gibt es keine Zweifel: Die Hauptlast der Finanzierung des Staates und der sozialen Sicherungssysteme sollen die Beschäftigten, vor allem der unteren Lohngruppen tragen. Das Chaos der hanebüchenen Lösungsvorschläge hat System.

Es gibt kein Halten mehr. Als wären sie von einem fiebrigen Schub ergriffen, verschärfen die so genannten Volksparteien ihren neoliberalen Kurs. Manchmal so schnell, dass ihr eigenes Personal Probleme hat zu folgen. Ein lehrreiches Beispiel hierfür lieferten in der vergangenen Woche die Christdemokraten.

Als sie von einem sozialdemokratischen Konzept, demzufolge das Krankengeld zukünftig allein von den Lohnabhängigen finanziert werden soll, unter Druck gesetzt wurden, einigten sich die CDU und die CSU überraschend schnell auf ein eigenes, noch unsozialeres. Der Zahnersatz soll aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen herausgenommen werden. Die Lohnzusatzkosten sollen für die Unternehmer sinken, die Beschäftigten müssten sich eben privat versichern. Nach Berechnungen der christlichen Parteien sei das mit 7,50 Euro im Monat von jedem zu leisten.

Diese Zahl aber, die von der Union als ein zumutbarer Kostenbeitrag vorgestellt wurde, ist keiner ordentlichen Kalkulation entsprungen. So sagte ein Sprecher der Krankenversicherung DKV dem Spiegel, der Beitrag sei auf Wunsch der Union einmal mit und einmal ohne seriöse Altersrücklagen berechnet worden. Vielmehr sei ein Beitrag von neun bis zwölf Euro zur Finanzierung notwendig. Und siehe da: Vor allem für Familien summieren sich die neuen Kosten, denn es ist unwahrscheinlich, dass die Kinder wie bisher bei den Eltern mitversichert werden können.

Nachdem dieser Plan von Angela Merkel (CDU) und Edmund Stoiber in der Union durchgesetzt worden war, folgten weitere Vorschläge von der Klausurtagung des Bundesvorstandes der CDU in Bad Saarow. Künftig sollen die Risiken privater Unfälle auch privat versichert werden und alle Zahnbehandlungen von den Patienten bezahlt werden. Schließlich könnten sie durch regelmäßige Vorbeugung der Zahnerkrankung entgegenwirken. Das Krankengeld hingegen sollen die Unternehmer übernehmen.

Nur einer aus der Union stellte sich offen gegen diesen Reformwahn: Horst Seehofer (CSU), der stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Gesundheitsexperte der Unionsfraktion im Bundestag. Er, der letzte Gesundheitsminister im Kabinett Helmut Kohls, wurde allem Anschein nach beim Klärungsprozesses der konservativen Schwesterparteien übergangen und warnt, zum allgemeinen Erstaunen, nun vor sozialer Ungleichheit. Er widerspricht öffentlich den beiden Vorsitzenden und zweifelt die Folgen der Reform an.

Seine Motivation wird wohl ein Rätsel bleiben. Denn als Gesundheitsexperte im »Kompetenzteam« des Kanzlerkandidaten Stoiber vor der Bundestagswahl im Herbst vergangenen Jahres warb er noch vehement für die Aufteilung der Pflicht- und Wahlleistungen der Krankenkassen. Das Modell der euphemistisch als »frei wählbar« bezeichneten Zusatzleistungen suggeriert, dass es die eigene Entscheidung sei, ob man sich so gute Zähne leisten will, dass man sich noch zu lachen traut. Es schließt selbstverständlich aus, dass die Unternehmer diesen freiwilligen Luxus paritätisch mitfinanzieren.

Nun eifert Seehofer Oskar Lafontaine und Ottmar Schreiner nach, weil er politisch unterlegen ist und das Gegenteil von dem vertritt, was er durchgesetzt hat, als er noch die Macht dazu hatte. Mit seinem Unmut über die Reformpläne ist er in der CSU aber keineswegs isoliert. Wird er eines Tages gar auf Einladung von Attac dozieren? Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Krista Sager, bot ihm schon eine Heimat in ihrer Partei an. Einen Wechsel zu dieser unsozialen Gruppierung dürfte er aber ablehnen.

Eine mögliche Erklärung für Seehofers Verhalten bieten die bayerischen Landtagswahlen im Herbst. Denn die CSU versteht sich darauf, für und wider etwas zugleich zu sein. Seehofer ist in Berlin dagegen, Stoiber in Bayern dafür. Bisher war die Rollenverteilung zwar meist umgekehrt, aber nach der gewonnenen Wahl haben sich sicher alle wieder lieb.

Die Reformbestrebungen der Regierung und der Opposition ähneln sich nicht nur in den austauschbaren, arbeiterfeindlichen Inhalten, sondern auch in der Art ihres Zustandekommens. Die Gesetzesentwürfe, die in diesen Tagen vorgelegt werden, sind nicht das Ergebnis einer Diskussion, sondern eher einem wilden, neoliberalen Aktionismus und einer manischen Idee geschuldet. Da die Vorschläge keine fünf Tage lang überzeugen können, muss in den Forderungen ständig nachgelegt werden.

Vor nichts schreckt der Angriff der regierenden Klasse zurück, weder vor den sozialen Sicherungssystemen noch vor dem Flächentarifvertrag oder den Arbeitsgesetzen. Selbst die Verfassung soll von einer Kommission auf ihre Blockadeelemente überprüft werden, wie der Fraktionsvorsitzende der SPD, Franz Müntefering, vorschlug. Alles muss überdacht, alles will reformiert werden. Man erklärt sich bereit, jede »unpopuläre Maßnahme« durchzusetzen, und die Bevölkerung stimmt dem Ganzen zu.

Es scheint, als würde die Bundesrepublik die Deregulierungs- und Privatisierungspolitik der USA unter Ronald Reagan und Großbritanniens unter Margaret Thatcher nachholen. Das geschieht hierzulande allerdings unter einer sozialdemokratischen Führung und, wie es scheint, schneller und rücksichtsloser. Einer muss es ja machen. Lediglich an die Rollenverteilung haben sich noch nicht alle gewöhnt.