»Die Führung ist hilflos«

Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der Jungsozialisten, niels annen, über die Lage der SPD vor dem Sonderparteitag am kommenden Sonntag

Wie finden Sie den Spruch: Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!

Er wird durch ewiges Wiederholen nicht richtiger.

Die SPD ist 1998 mit dem Vorhaben angetreten, das Land sozial gerechter zu machen. Nun ist die Enttäuschung bei vielen Wählern groß.

Auch wir Jusos sind nicht zufrieden mit dem, was der Bundeskanzler mit der Agenda 2010 vorgelegt hat. Wir haben bereits einige Punkte für die Menschen, um die es dabei geht, verändern können, etwa bei der Anrechenbarkeit für das neue Arbeitslosengeld zwei, bei der Frage der Ausbildungsplatzabgabe oder bei der Umlagefinanzierung. Das reicht mir nicht aus, doch wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich in einer Wirtschaftskrise nicht zum ersten Mal die Machtverhältnisse in diesem Land zugunsten des Kapitals verschoben haben.

Die SPD ist ja immer noch an der Regierung, auch wenn das Kapital großen Einfluss auf ihre Politik hat. Ist nicht die Bilanz erschreckend: die hohen Schulden, die Arbeitslosenzahl?

Die Momentaufnahme ist in der Tat erschreckend. Wobei ich davor warne, einfach nur in Schrecken zu erstarren, wenn Hans Eichel seine neuesten Zahlen vorliest. Das Summieren eines prognostizierten Staatsdefizits zu einer Summe von 126 Milliarden Euro ist wirtschaftspolitisch nicht seriös und sagt auch nicht allzu viel über die realen Handlungsnotwendigkeiten aus.

Damit ist eine politische Intention verbunden. Sie besteht darin, die gescheiterte Politik der Haushaltskonsolidierung fortzusetzen, und das ist natürlich die falsche Antwort auf die Krise, in der wir uns befinden. Wir brauchen Investitionen in Bildung, in Ausbildung, in Arbeit, wenn die SPD und dieses Land weiter eine Zukunft haben wollen.

Die SPD kürzt bei den kleinen Leuten, an die Großen traut sie sich nicht heran. Bricht die Partei endgültig mit ihren alten Milieus?

Ich glaube, dass die Führung der SPD zur Zeit hilflos ist. Denn die Agenda 2010 folgt ja dem Schema, das wir von Schröder kennen. Da wird ein Wunderheilmittel versprochen, das alle Probleme lösen soll. Damit haben wir Jusos uns schon beim Mainzer Modell, als es um den Kombilohn ging, oder auch beim Hartz-Konzept nicht einlullen lassen.

Natürlich muss sich die SPD auch neuen Wählerschichten öffnen, aber der zurückliegende Bundestagswahlkampf hat uns gezeigt: Die SPD kann keine Wahl gewinnen, ohne ihre Anhänger zu mobilisieren. Insofern ist die gegenwärtige Politik ein Akt auf dem Drahtseil. Doch ich glaube nach wie vor daran, dass sich in diesem Land eine fortschrittliche Politik nur mit der SPD durchsetzen kann.

Aber Ihre Partei ist momentan nicht besonders attraktiv. Nicht einmal mehr 30 Prozent der Wähler würden sie derzeit wählen.

Das ist eine dramatische Zahl, und sie hängt auch damit zusammen, dass die SPD ihre Wähler enttäuscht hat. Die Agenda 2010 bricht Wahlversprechen. Die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe wäre solch ein Bruch. Ich kann jeden verstehen, der sich frustriert zurückzieht.

Aber es hat auch noch nie eine Generation gegeben, die sozialstaatliche Leistungen, demokratische Rechte und Partizipationsmöglichkeiten geschenkt bekommen hat. Wir müssen uns alles aufs Neue erkämpfen. Dies wird ohne eine starke Sozialdemokratie und ohne starke Gewerkschaften nicht gehen.

Man hat doch eher den Eindruck, dass man die Demokratie gegen Schröder verteidigen muss. Er übt Druck mit Rücktrittsdrohungen aus, er setzt Kommissionen ein, die am Parlament vorbei arbeiten. Wie finden Sie diesen Führungsstil?

Ich halte das für einen erpresserischen Führungsstil. Es gibt keine Linken, die eine Verbindung hergestellt haben zwischen der Kanzlerschaft Schröders und der Agenda 2010. Das hat der Kanzler selbst gemacht. Es ist nicht wahr, dass alle, die die Agenda kritisieren, Schröder stürzen wollen.

Ich möchte, dass Rot-Grün Erfolg hat. Aber eine Partei, die stolz ist auf 140 Jahre demokratischer Tradition, lässt sich nicht per Diktat von oben regieren. Der Sonderparteitag und die Regionalkonferenzen zeigen ja, dass das so nicht funktioniert.

Aber Schröder hat doch Erfolg mit seinem autoritären Führungsstil.

Die Agenda wird nicht eins zu eins umgesetzt. Und wer sagt, dass am 1. Juni nach dem Schlusswort des Vorsitzenden auf dem Parteitag die Geschichte aufhört? Schröder kann mit seinem politischen Gewicht die Abstimmung gewinnen. Aber meine große Sorge ist, dass er die Menschen nicht überzeugt und dass ökonomisch der gewünschte Effekt nicht eintritt. Die Agenda 2010 stellt keine Leitlinien vor, sondern setzt eine gescheiterte ökonomische Logik fort.

Welche Elemente der Agenda würden Sie als unsozial bezeichnen?

Die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf das Sozialhilfeniveau etwa. Die Zusammenführung beider Leistungen halte ich für sinnvoll, weil die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in den Genuss von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen kommen. Die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes ist für mich so lange nicht akzeptabel, als wir nicht einen individuellen Anspruch auf einen zumutbares Beschäftigungsangebot für die betroffenen Arbeitnehmer mit hineinschreiben.

Der dritte und wichtigste Punkt ist die einseitige Herausnahme des Krankengeldes aus der paritätischen Versicherung zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das wäre eine unsoziale Maßnahme, die wir so nicht mitmachen. Das Motto, jeder muss seinen Beitrag leisten, ist nicht erfüllt worden. Was ist eigentlich mit den Vermögenden in diesem Land? Es gibt in der SPD einen lauten Ruf nach der Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Und zumindest bei der Erbschaftssteuer haben wir ja auch etwas erreicht.

Würde es denn den Betroffenen des geplanten Sozialabbaus helfen, wenn auch die Reichen etwas abgeben? Führte denn die Verwirklichung der Agenda nicht trotzdem zu einer Verarmung von Teilen der Bevölkerung?

Wir haben wichtige Fortschritte für die Betroffenen erreicht. So soll bei der Zusammenführung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe das Einkommen des Partners weniger stark mit angerechnet werden als ursprünglich geplant. Selbst genutztes Wohneigentum wird nicht herangezogen, und dasselbe gilt auch für die Altersvorsorge, die man sich zur Seite gelegt hat. Das reicht alles nicht aus, führt aber dazu, dass zumindest in den ersten zwei Jahren das Niveau des Arbeitslosengeldes zwei deutlich über dem heutigen Niveau der Sozialhilfe liegt.

Die Jusos sind ja traditionell etwas kritischer als der Rest der Partei. Ist das nicht einfach Ihre Rolle als Vorsitzender der Jusos, Kritik zu üben? Auch Schröder war ja einmal Vorsitzender der Jusos.

Dass Gerhard Schröder einmal Juso-Vorsitzender war, ist eine historische Anekdote, hat aber keinerlei Einfluss auf die heutige Politik der Jusos.

interview: stefan wirner