Das ist unser Haus

Weil sonst nichts mehr geht, darf jetzt die alternative Szene den Betonkomplex am Kottbusser Tor bewirtschaften. von christoph villinger

Wer sich in den Abendstunden dem Kottbusser Tor nähert, dem leuchtet ein Anarcho-A aus Neonlichtröhren entgegen. Es steht seit ein paar Wochen auf dem Dach des Neuen Kreuzberger Zentrums (NKZ). Fast könnte man meinen, nach 30 Jahren sei die gegen die Erbauer des NKZ gerichtete Textzeile im Rauch-Haus-Song von Ton Steine Scherben befolgt worden: »Schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus!«

Die Lichtinstallation ist Teil des neuen und vielleicht letzten Versuchs der privaten Eigentümer des NKZ, den inzwischen in »Zentrum Kreuzberg / Kreuzberg Merkezi« umbenannten Gebäudekomplex rentabel zu machen. Denn im November 2004 droht die Insolvenz, wenn nach 30 Jahren die Förderung im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus endet. Die Einbeziehung der Kreuzberger Alternativszene könnte zur Rettung beitragen.

Mit einem »Kaufhaus für ungewöhnliche Dinge« in den 1 200 Quadratmeter großen Räumen der Möbel-Oase und des früheren Obi-Baumarkts wollen Wolf Maack und Richard Stein die »landläufige Assoziationskette: Kotti gleich Junkies gleich sozialer Brennpunkt« durchbrechen und »die positiven Aspekte dieses Ortes als Eingangstor zum Kreativbezirk SO 36 aufzeigen und weiterentwickeln«. Ab 170 Euro monatlich kann man einen kleinen Stand mieten und Taschen aus Lkw-Planen, Edelramsch und andere »kuriose und unnütze Dinge für den Alltag« verkaufen. Oder auch seine Dienste anbieten, etwa als Wahrsager oder Stadtführerin.

Einen Gang durch das geplante Kaufhaus beschreiben die MacherInnen auf ihrer Internetseite so: »Zu den Klängen längst vergessen geglaubter Schlager bewegen sich unsere Gäste durch die bazarartig lebhaften Gässchen und unter schillernden Kronleuchtern hindurch und finden so schließlich auf die weitläufige Terrasse hinaus, wo plätschernde Brunnen mit wasserspeienden Kampfhundimitaten, Sitzgruppen mit geblümten Deckchen, ein Blick auf das Treiben am Kottbusser Tor und die Aussicht auf einen liebevoll zubereiteten Milchkaffee im hellen Sonnenlicht zum Verweilen einladen.« Über 100 Interessenten hätten sich bereits um die etwa 40 Verkaufsstände beworben, berichtet Maack. Schon im Juli sollen das Kaufhaus und die Kotti-Terrassen eröffnet werden. Bis dahin trifft man sich in der neuen Kneipe im Durchgang zur Dresdener Straße, benannt nach einem früheren Mieter im NKZ: »Möbel Olfe«.

Mitte Februar fand in der Kneipe, in den Passagen und den Kellern des ansonsten eher trostlosen Betonkomplexes eine Kunstaktion statt. Die »Ich-Kreuzberg-AG« versprach »Amüsement zu Discountpreisen«, die »Ich-Sehnsucht-AG« verkaufte Urlaubsfotos aus aller Welt und bei der »Ich-&-Du-AG« lernte man »filmreif küssen«. Auch die Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (PDS) und der Baustadtrat Franz Schulz (Grüne) waren angetan von dem Ereignis.

Als ein typisches Spekulationsprojekt im Westberliner sozialen Wohnungsbau wäre das NKZ mit seinen etwa 300 Wohnungen längst pleite, subventionierte das Land Berlin die Mieten im Haus nicht mit jährlich etwa 2,5 Millionen Euro. Dem Verkehrswert des Gebäudes in Höhe von etwa 13 Millionen Euro stehen Schulden von ungefähr 45 Millionen Euro gegenüber, vor allem bei der Investitionsbank Berlin (IBB). Offensichtlich tilgte die Neue Kreuzberger Zentrum GmbH KG in den letzten 30 Jahren keinen Cent der Baukosten, denn exakt die gleiche Summe wurde 1974 verbaut.

Nicht schlecht gelebt haben dürften die Gesellschafter, besser: die Kommanditisten. Für jede eingelegte Mark bezahlten sie 2,01 Mark weniger an Steuern, dazu erhalten sie ihren Anteil der jährlichen Ausschüttungen. Um alle Kosten zu decken, müssten die Mieten im NKZ 14 Euro pro Quadratmeter betragen. Doch auch mit den Subventionen vom Senat bleiben sie fast unbezahlbar.

»Die Mieten bewegen sich zwischen sechs und acht Euro«, berichtet die Sozialarbeiterin Neriman Kurt, »das können sich nur noch Sozialhilfeempfänger leisten«, also Menschen, die ihre Miete nicht selbst aufbringen können. Das Geld komme so oder so aus der Staatskasse, und lande letztlich bei den Eigentümern des Hauses. Fast 80 Prozent der Mieter im NKZ leben von Sozialhilfe oder ergänzender Sozialhilfe. »Deshalb haben viele der MieterInnen keinen Bezug zum Haus und machen sich auch wenig Gedanken um die Zukunft«, sagt Kurt. Aber viele MigrantInnen fühlten sich hier sicherer als anderswo. Von der Idee eines so genannten Event-Kaufhauses hält sie wenig, »weil die Leute Geld und eine Arbeit brauchen, von der sie leben können«.

Auch der Baustadtrat Franz Schulz kennt die Probleme. Auf einer öffentlichen Veranstaltung zur »Zukunft des Kottbusser Tors« sprach er von einem »katastrophalen Bermudadreieck«. Doch er hofft, dass die »Verschuldungsproblematik gelöst wird«. Dazu müsste man aber zum Beispiel bei der IBB nachfragen, wo denn die Akten mit den Förderzusagen an die NKZ GmbH KG geblieben sind. Sie seien nämlich verschwunden, berichtete Theo Winters von der Gesellschaft für behutsame Stadterneuerung bei der Diskussion. Normalerweise besteht für Kommanditisten die Pflicht, mit einem Betrag bis zur Höhe ihrer Einlage zu haften.

»Diese Nachschusspflicht müsste in den Verträgen stehen, doch gesehen habe ich noch keinen«, berichtet die wohnungspolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus, Barbara Oesterheld. Aber sie kann verstehen, warum niemand das NKZ in den Konkurs treiben will. Schließlich wären bei einer Zwangsversteigerung die Millionen der IBB weg und eventuelle Bürgschaften des Landes würden fällig. Zusätzlich würden die Sozialbindung und die Belegungsrechte entfallen. Außerdem könnte ein neuer Besitzer die Mieten alle drei Jahre um 20 Prozent erhöhen. Dazu komme, dass das Haus »nicht für einen Appel und ein Ei an jemand verkauft werden soll«. Doch obwohl das Problem seit Jahren bekannt ist, kümmerte sich niemand um Alternativen. Heute sei Berlin »viel zu pleite«, um über den Kauf des Hauses für einen Euro auch nur nachdenken zu können, sagt Oesterheld.

Noch hofft Monika Barthelmeß vom Mieterbeirat des NKZ, die seit 27 Jahren dort wohnt, dass der Senat doch einspringt. Gleichzeitig fordert sie aber, »dass klipp und klar gesagt wird, was Sache ist, und keine falschen Hoffnungen geweckt werden«. Ihre Wohnung im neunten Stock findet sie »wunderschön«, und sie genießt den Ausblick bis nach Gropiusstadt und zum Fernsehturm.

Auch die vier Frauen im Anwohnertreff »Bizim Ev/Unser Haus« wollen »die drohende Insolvenz nicht wahrhaben«. Hier treffen sie sich zum Tee und helfen ihren türkischen MitbewohnerInnen beim Umgang mit den Behörden. Gemeinsam wollen sie auch dieses Jahr gegen die ihrer Meinung nach unrechtmäßige Betriebskostenabrechnung vorgehen. Eine der drei türkischen Frauen hat sich vor wenigen Tagen die Ausstellung über die Kämpfe gegen die Kahlschlagsanierung der siebziger Jahre im nahe gelegenen Kreuzberg-Museum angeschaut. »Falls die Politiker nichts machen und die Mieten dann ins Unbezahlbare steigen«, sagt sie und lacht, »werden wir wohl auch unser Haus besetzen müssen, wie damals das Rauch-Haus.«