Das Lied vom Tod

Martin Scorsese macht in seinem Film »Gangs of New York« aus Männern Mörder und aus Frauen Nutten und aus allen Tote – das ist garantiert. von jürgen kiontke

Was übrig bleibt, wenn man Martin Scorseses Gang-Bang hinter sich hat: der Soundtrack von Howard Shore. Ein dahingehauener Trommelsatz, über den eine todmüde Bürgerkriegsflöte gelegt wurde, die klingt, wie von einem Halbtoten gespielt – als werde der Ton vom Atem eines durchgeschnittenen Halses erzeugt. Der Soundtrack klingt, als sollte mitgeteilt werden: Für ein sittsames Zusammenleben ist hier nicht viel Puste. Oben im gesellschaftlichen Überbau ist die Luft dünn, dafür ist sie unten an der Basis umso dicker. Immer wenn die Musik erklingt, geht es auf zum Schlachten.

Mit diesem Pfeifen im Ohr werden die Zuschauer wieder ins Freie entlassen, nachdem sie 160 Minuten im New Yorker Hexenkessel verbracht haben, wo selbst die Feuerwehr eine mit Äxten, Messern und Kanonen schwer bewaffnete ethnische Säuberungstruppe bildet, die man besser nicht ruft, wenn’s brennt. Im Zweifelsfall steckt sie auch noch das Nachbarhaus an, anstatt zu löschen, damit das Plündern leichter fällt.

Martin Scorseses »Gangs of New York«, die Verfilmung von Herbert Asburys gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1928, soll Geschichtsdrama sein und ist doch Kriegsfilm. Kein Wunder, die Produzenten ziehen Parallelen zwischen Asburys Buch und »Clockwork Orange« oder sprechen gleich von einem Western auf dem Mars. Dabei zeigt der Film doch nur die blutige Entstehung demokratischer Strukturen und die apokalyptischen Klassenverhältnisse der New Yorker Welt im 19. Jahrhundert. Erstaunlicherweise ist das alles ein im jüngeren Kino kaum thematisierter Stoff.

Kapitalismus bedeutet Krieg, ruft uns Scorsese zu, und er macht aus Männern Mörder, aus Frauen Nutten, aber aus allen Tote, das ist garantiert. Man sieht der armen Bevölkerung des Stadtteils Five Point beim Leben und noch viel mehr beim Sterben zu. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten werden die multinationalen Konflikte der damaligen Zeit im Film auf den Kampf der so genannten Natives mit den Iren zugespitzt.

Hin und wieder glaubt man, ein bekanntes Schauspielergesicht zu sehen, aber kann man sich wirklich an die Anwesenheit von Stars wie Leonardo DiCaprio, Darsteller des irischen Einwanderersohns Amsterdam Vallon, und Cameron Diaz als Taschenräuber-Jenny in diesem Film gewöhnen? Teilweise versinken sie arg im Kleiderbestand der Ausstattung, was vielleicht auch so sein muss, denn dies hier ist ein Kostümfilm und zuweilen wähnt man sich auf einer Konzeptparty mit ein paar Prominenten. Wenn hier einer aber wirklich auffällt, dann ist es Daniel Day-Lewis in seiner Figur als William Cutting, als Bill der Schlachter – eine monströse Figur, ein Straßenterrorist. Einer, der zur Wahrung seiner Macht als Statthalter der weißen, ansässigen Bevölkerung nicht davor zurückschreckt, einen gewählten Sheriff abzuschlachten. Überhaupt scheinen seine beruflichen Fähigkeiten als Schlachter bei der Umsetzung seiner politischen Pläne sehr dienlich zu sein.

Die nicht ganz so vereinigten Staaten von Amerika stehen kurz vor dem Bürgerkrieg, die Wirtschaftskrise tobt, als Amsterdam Vallon noch ein kleiner irischer Einwanderer ist, dessen Vater vom fanatischen Migrantenhasser Cutting getötet wird. Der vaterlose Junge verschwindet daraufhin jahrelang in der Erziehungsanstalt, und nur eines treibt ihn an: den Mörder seines Vaters zu töten. Dafür will er um jeden Preis an Cutting herankommen, doch der hat eine starke Schutztruppe um sich versammelt. Seine beste Lebensversicherung ist er, der gewandte Messerkiller, aber selbst.

Doch es gelingt Amsterdam, Cuttings Vertrauen zu gewinnen, und er wird diesem sogar eine Art Ersatzsohn. Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass sich Amsterdam der Taschendiebin Jenny annähert, der wiederum ein Verhältnis zu Cutting nachgesagt wird. Auch sie teilt Amsterdams Schicksal als Ziehkind. Der Schlachter hat eben gern junge Leute um sich, solange immer klar bleibt, dass er der unumstrittene Sonnenkönig ist.

Was sich auf der Straße abspielt, findet seine Entsprechung in der Politik. Die Interessen der zuerst Eingewanderten, der Natives, sollen um jeden Preis gewahrt bleiben, gerne auch unter Verwendung korrupter Mittel. Nichts würde man lieber sehen, als dass das irische Pack sich wieder nach Westen verpisst. Der Mythos vom melting pot soll hier ganz bewusst zerstört werden. Die Darstellung exzessiver Gewaltszenen bleibt da nicht aus.

DiCaprio verteidigt die drastischen Szenen, indem er findet: »Das ist dokumentierte Geschichte, daran ist nichts geschönt. Es wäre blinder Patriotismus, den Beginn unserer Demokratie anders zu zeigen.« Scorsese legt nach: »Es gibt immer Leute, die sagen, meine Filme sind zu gewalttätig.« Die Menschen hätten damals aber einfach keine andere Wahl gehabt, als zu recht atavistischen Methoden zu greifen. »Gewalt ist keine Möglichkeit, sondern Realität.« Da hat er Recht – bei jedem US-amerikanischen Transportarbeiterstreik geht es heute ja auch nicht viel anders zu als in seinem Film.

Die Qual hat, wer keine Wahl hat. Am Tag der Veröffentlichung der draft conscriptions kommt es zur Eskalation. Mit den draft conscriptions sind Präsident Lincolns Regelungen zur Einberufung in die Bürgerkriegsarmee gemeint, nach denen alle jungen Männer rekrutiert werden, man sich aber für 300 Dollar freikaufen kann. In der ganzen Stadt stehen sich die Kampfverbände gegenüber, bereit, sich gegenseitig zu massakrieren. Dramaturgisch sinnvoll kommt es natürlich auch zum Endspurt zwischen Bill Cutting und Amsterdam Vallon. Hier wie den ganzen Film über gilt: Der Gegner wird umgebracht, koste es, was es wolle. Afrikanische Zwangseingesiedelte jedoch werden sogar umgebracht, aufgehängt und dann verbrannt – so sieht nation building in diesem Film aus. »Gangs of New York« ist trotz aller dramaturgischer Verengung sowohl Klassenkampf- als auch Rassenkampfspektakel. (Jungle World, 7/03)

Die Anhänger nationalistisch-romantischer Träume sollten sich diesen Film anschauen, denn hier werden sie aus ihrem Schlummer geweckt. Wenn es das Volk zu bunt treibt, dann kommt die Armee und schießt es über den Haufen, und wer dann noch übrig bleibt, bekommt eine Uniform verpasst und kann seinerseits zusammenschießen, was noch Beine hat. Oder sich selbst an der Front zu den Südstaaten zusammenschießen lassen. Man hat die freie Wahl. Besonders wenn man aus dem letzten Loch pfeift, wie die Flöte in der Filmmusik, deren Gebrauch an Henry Fondas Hinrichtung in »Spiel mir das Lied vom Tod« erinnert. Fonda wird auch langsam aber sicher der Atem immer flacher.

»Gangs of New York« stellt die Frage: Wozu gibt es Menschen? Wie wollen sie leben? Wozu überhaupt? Das Weltbild, dem Scorsese am nächsten steht, sei der Kampf aller gegen alle, schreibt der Filmwissenschaftler Rüdiger Suchsland. Sein Personal bestehe aus künftigen Stützen der Gesellschaft, die Handlungen seiner Filme seien apokalyptische Selbstreinigungsrituale und ihr Terrain das Schlachtengemälde, ihr Ziel sei die Geburt der Nation.

Und bei einer Geburt fließt nun einmal viel Blut. Die zweieinhalb Geburtsstunden von »Gangs of New York« sind in diesem Sinne die konsequentesten im gesamten Filmschaffen Scorseses. Am Schluss braucht es gar keine Flöte mehr für die schwachen, absterbenden Pfeiflaute. Da haben die Körper genug geschaffene Öffnungen, um selbst ein Leichenkonzert zu geben.

»Gangs of New York«. USA 2002. R: Martin Scorsese, D: Daniel Day-Lewis, Leonardo DiCaprio, Cameron Diaz