Rückwärts immer

Selbst die Anwesenheit des brasilianischen Präsidenten Lula machte das Weltwirtschaftsforum nicht friedlicher.

Diese Demonstrationsbewilligung ist nichts mehr wert!«, ruft ein Aktivist vor dem Rathaus in Davos ins Megaphon. Ein anderer zündet das angesichts der Ereignisse wertlos gewordene Blatt Papier an. Zuvor waren 1 500 DemonstrantInnen in der Abenddämmerung rückwärts durch das streng bewachte Davos gezogen, um die Demonstrationsbewilligung der Davoser Behörden unter Protest zurückzugeben. Der Rückwärtsgang solle zeigen, dass »im Schweizer Rechtsstaat einiges verkehrt läuft«, sagt David Böhner, Anti-WTO-Aktivist und Mitglied des Oltner Bündnisses, das am Samstag der letzten Woche zu einer Großdemonstration gegen den Irakkrieg und gegen das Weltwirtschaftsforum (WEF) aufrief.

Die meisten DemonstrantInnen erreichten Davos erst gar nicht. Sie scheiterten an der Kontrollschleuse, die am Bahnhof Fideris, einem Ort zwischen Landquart und Davos, eingerichtet worden war. Bereits Anfang Januar hatte das Oltner Bündnis klar gemacht, dass man sich nicht durch dieses »Viehgatter« treiben lassen werde. Der freie Zugang nach Davos wurde für alle Demonstrationswilligen gefordert. Die Behörden beharrten dagegen auf den Kontrollen. In diesem Punkt gebe es keinen Verhandlungsspielraum. »Alle oder niemand«, forderte hingegen das Bündnis, geriet allerdings mit dieser Position zuletzt unter Druck. Die vielen tausend friedlichen DemonstrantInnen werden instrumentalisiert, schrieb die Sozialdemokratische Partei (SP) in einer mit Diffamierungen gespickten Mitteilung.

Es schien sich zunächst doch ein Ausweg abzuzeichnen. Nach stundenlangen Verhandlungen verzichteten die Behörden auf den Gang der DemonstrantInnen durch die Schleusen und begnügten sich mit Kontrollen einzelner Gepäckstücke. Zu dieser Zeit warteten bereits mehrere tausend Menschen in Landquart darauf, ebenfalls die Züge nach Davos zu besteigen. Doch daraus sollte nichts werden. Denn schon als der nächste Zug an der Schleuse eintraf, galt das Versprechen der Behörden nicht mehr. Die Beamten weigerten sich, weitere Kontrollen in den Zügen durchzuführen. Also musste der zweite Zug nach Landquart zurückkehren.

Als dort die Meldung vom nicht durchgelassenen Zug eintraf, versuchten 300 DemonstrantInnen, die nahe gelegene Autobahn zu blockieren, es kam zu ersten Konfrontationen mit der Polizei. Und zu einer Premiere, denn zum ersten Mal waren deutsche Polizisten in der Schweiz im Einsatz. An der Autobahn wurden alle sechs Wasserwerfer aus Baden-Württemberg und Bayern aufgefahren, die Schweizer Beamten setzten Tränengas und Gummigeschosse ein.

Die Polizei sprach anschließend von einem Demonstranten, der »vermutlich durch einen Schneeball«, der von einem Rechtsextremen hinter den Absperrgittern geworfen wurde, verletzt worden sei. DemonstrantInnen hingegen berichteten von acht Menschen, die durch Gummigeschosse, auch im Augenbereich, verletzt worden seien.

Indes wurden der Rest der WEF-GegnerInnen auf dem Bahnhofsgelände in Landquart eingekesselt. Der einzige Ausweg blieb die Rückfahrt mit der Bahn nach Zürich und Bern, wo jeweils enorme Polizeiaufgebote die Heimkehrenden erwarteten. Während es in Zürich ruhig blieb, gab es in Bern rund um das autonome Kulturzentrum »Reitschule« bis tief in die Nacht schwere Auseinandersetzungen zwischen immer noch mehr als 1 000 WEF-GegnerInnen und der Polizei.

Derweil behauptete die SP, die sich plötzlich als treibende Kraft der Schweizerischen GlobalisierungskritikerInnen aufspielt, das Oltner Bündnis sei dafür verantwortlich, dass eine friedliche Großdemonstration gegen den Krieg und die Globalisierung verhindert worden sei. Autoritärer als die Polizei sei das Bündnis, schimpfte die SP-Vorsitzende Christiane Brunner.

»Man hat uns in eine Falle gelockt«, konstatiert dagegen Walter Angst vom Bündnis. »Man wollte die Gewerkschaften zu einer netten Demonstration nach Davos fahren lassen und den Rest zurückhalten, um die Bewegung zu spalten.« Dass diese Spaltung nicht gelungen sei, wertete er als einen wichtigen Erfolg. »Der gestrige Tag hat die Bewegung zu einer neuen Größe geführt, und zwar durch das gemeinsame Auftreten mit den Gewerkschaften.«

»Während in Davos über Frieden diskutiert wird, herrscht in der Bundeshauptstadt Krieg«, kommentierte tags darauf die Zeitung SonntagsBlick, wohl wissend, dass Auseinandersetzungen mit Wasserwerfern, Tränengas und Steinen keinen Krieg ausmachen und dass zumindest einer in Davos nicht gerade über Frieden diskutierte. »Wir werden vor einem Krieg nicht zurückschrecken, falls es der einzige Weg ist, um den Irak von Massenvernichtungswaffen zu befreien«, sagte der US-amerikanische Außenminister Colin Powell auf dem WEF.

Der »Globalisierungskritiker der ersten Stunde« aber, wie sich der Gründer des Forums, Klaus Schwab, gerne selbst bezeichnet, ließ sich von solchen Tönen ebenso wenig beirren wie von dem faktischen Demonstrationsverbot, das in nicht unerheblichem Maße die Krawalle provozierte.

Der selbst ernannte Kämpfer für eine bessere Welt freute sich ganz besonders über den Besuch des brasilianischen Staatspräsidenten Luiz Inácio da Silva, genannt Lula. Nachdem er in Porto Alegre die TeilnehmerInnen des Weltsozialforums mit seiner Rede begeistert hatte, traf er am Sonntag beim Weltwirtschaftsforum ein und übernahm dort die Rolle des Sprechers der Armen.

Weder von einem Appell brasilianischer Intellektueller noch von einer Resolution des Attac-Kongresses »Das andere Davos« hatte sich Lula von seiner Reise abhalten lassen. Mit seinem Auftritt in Davos hat er nicht nur die Absicht der Bewegung durchkreuzt, keinen Dialog mit dem WEF zu führen.

»Ich möchte der Welt sagen, wie wunderschön sie wäre, wenn nicht so viel Geld für Waffen ausgegeben würde und stattdessen Brot, Bohnen und Reis gekauft würden, um den Hunger auszumerzen«, sagte Lula in Porto Alegre. Und welcher Politiker oder Manager in Davos hätte solch frommen Wünschen widersprechen sollen?

Aber die Verhältnisse sie sind nicht so, weshalb seine Anwesenheit zwar dem WEF, das sich seit den verstärkten Protesten selbst als Wirtschaftssozialforum betrachtet, eine nützliche Legitimationshilfe leistete, aber weder Powell daran hinderte, die Kriegspläne zu verteidigen noch den kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe Velez davon abbrachte, den Krieg gegen die Guerilla Farc in den »Kampf gegen den Terror« einzureihen.

Fraglich ist allerdings, ob auch das nächste Treffen wie geplant in den Schweizer Alpen stattfinden kann. Viele BürgerInnen von Davos haben den jährlichen Ausnahmezustand satt und wollen eine Initiative gegen das Forum starten.