Falken und Aasgeier

Mit ihrem Affront gegen die USA stellen Deutschland und Frankreich die Geschäftsgrundlagen der Nato in Frage. Noch aber sind sie auf das Militärbündnis angewiesen. von jörn schulz

Das neue Hauptquartier sei »eine greifbare Manifestation der ehrgeizigen Agenda der Allianz für Transformation, Anpassung, Erneuerung und Wandel«, meint Nato-Generalsekretär George Robertson. Über so profane Dinge wie die Baukosten mochte er nicht sprechen, belgische Zeitungen schätzen sie auf 300 Millionen Euro. 1999 hat die Nato beschlossen, dass sie »ein neues Gebäude für das neue Jahrtausend benötigt und verdient«. Am Donnerstag der vergangenen Woche entschied sich der Nordatlantikrat für einen Entwurf, der die Errichtung von vier wellenförmigen Büroblöcken vorsieht.

Zumindest über architektonische Fragen können sich die Mitgliedsstaaten also noch einigen, aber die Stimmung in der Nato war schon mal besser. Nicht dass es in der Vergangenheit an Streitpunkten gemangelt hätte, 1974 führten die Nato-Partner Türkei und Griechenland sogar Krieg gegeneinander. Die jüngsten Zerwürfnisse zeigen jedoch, dass die Interessen der wichtigsten Mitglieder in zentralen Fragen nicht mehr übereinstimmen.

Robertson wollte es nicht als Disput gewertet wissen, dass Deutschland und Frankreich es in der vergangenen Woche ablehnten, mit den Planungen für eine Beteiligung der Nato an einem Irakkrieg zu beginnen. Der französische Präsident Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder machten im Zusammenhang mit ihrem spektakulär inszenierten Einspruch gegen die Irakpolitik der USA jedoch selbst deutlich, dass die Verzögerung der Nato-Entscheidung ein Teil ihrer Strategie zur Verhinderung eines Krieges ist.

Als US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld das Problem identifizierte und zugleich deutlich machte, dass man sich vom Störfeuer dieses »alten Europa« nicht beeindrucken lassen werde, antwortete eine Phalanx von Sozialdemokraten, Konservativen und Grünen mit allerlei kulturalistischem Unsinn. So wird der alte ideologische Konkurrenzkampf Europas gegen die vermeintlich kulturlosen USA wieder aufgenommen, der durch den Kalten Krieg nur zeitweilig gebremst worden war.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien es zunächst so, als könnten sich die westlichen Staaten auf eine »neue Weltordnung« einigen. 1999, als der größte Feind von Freiheit und Menschenrechten noch Slobodan Milosevic hieß, verkündete die Nato ihre neue Strategie, die eine gemeinsame Interventionspolitik anvisierte. Als Gefahren für die »Sicherheitsinteressen«, die man verfolgen wollte, wurden »Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen«, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und die »unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen« genannt. Auch die Option des nuklearen Erstschlages hielt man sich offen.

Von der Doktrin des Präventivkrieges abgesehen, findet sich hier fast alles, was derzeit als besonders aggressive US-Politik gilt. Dennoch haben deutsche und französische Politiker bislang die Militarisierung ihrer Außenpolitik erfolgreich als Friedenswerk verkauft. Wenn Chirac seine Elitetruppen in die Côte d’Ivoire schickt, wo sie bereits mehr als 30 Rebellen getötet haben, muss er sich nicht mit der Parole »Kein Blut für Kakao« auseinandersetzen, und Schröder blieben unbequeme Fragen zum Einsatz der Krisenreaktionskräfte in Afghanistan bislang erspart.

Wozu der deutsch-französische Vorstoß dient, hat Chirac recht klar gemacht: »Es ist dringlich, dass Europa sich als internationaler Akteur durchsetzt. Es ist heute ein Beispiel für alle, die sich der Unabwendbarkeit des Krieges verweigern. (…) Ein Europa, das handlungsfähig ist, auch im militärischen Bereich, ist notwendig für das Gleichgewicht der Welt.«

Auch in den Zeiten des so genannten Freihandels bleibt der Staat ein bedeutender ökonomischer Akteur. Es sind Regierungen, die in der WTO über Zölle und Subventionen und im IWF über Kreditbedingungen entscheiden, bilaterale Handelskonditionen vereinbaren und nicht selten direkt Großaufträge akquirieren. Derzeit streitet man vor allem um die Hegemonie über den Nahen und Mittleren Osten, den die EU im Rahmen des Barcelona-Prozesses und mit bilateralen Verträgen in eine Freihandeslzone integrieren will.

Auch in Lateinamerika ist der Konkurrenzkampf um den privilegierten Marktzugang entbrannt. Militärische Macht ist dabei nur selten von entscheidender Bedeutung, und selbst von Interventionen in Kriegsgebieten profitiert nicht immer der, der die meisten Soldaten und Bomber aufbietet.

Der Beitritt zehn neuer Mitglieder, so Nicole Gnesotto vom EU-Think-Tank Institute for Security Studies, »wird die Europäische Union zur führenden Handels- und Wirtschaftsmacht der Welt machen, die wesentlich für jedes finanzielle Krisenmanagement sein wird«. Sowohl auf dem Balkan als auch in Afghanistan hatten die USA die tragende Rolle bei der militärischen Intervention, EU-Staaten sind nun führend beim ökonomischen Krisenmanagement.

Diese Politik wird von den Verteidigern des »alten Europa« nun als Beweis für Weisheit und Friedenswillen angeführt. Treffender wäre es, sie als Aasgeierstrategie zu bezeichnen. Auf den von der US-Militärmaschine hinterlassenen Trümmerfeldern sucht man nach leichter Beute. Erfolgversprechend ist eine solche Strategie jedoch nur, wenn Einigkeit über eine Nachkriegsordnung besteht. Im Falle des Irak dagegen ist es absehbar, dass eine erfolgreiche US-Intervention Deutschland und Frankreich aus dem Aufbaugeschäft verdrängen würde. Unter anderem deshalb möchten sich die beiden Staaten aus der Abhängigkeit von der Vorarbeit des großen Konkurrenten durch den Aufbau einer eigenständigen EU-Militärmacht lösen.

Um sich gegen die übermächtige Rüstungsindustrie der USA behaupten zu können, schlossen die wichtigsten Rüstungsproduzenten der EU im Jahr 2000 ein Rahmenabkommen über verstärkte Zusammenarbeit, und noch in diesem Jahr soll die Aufstellung einer eigenen Eingreiftruppe beendet werden. Doch für die Interventionsfähigkeit in aller Welt fehlt die notwendige Infrastruktur aus Stützpunkten, Transportkapazitäten und Aufklärungssystemen. Weit stärker als die USA, die den Verlust von Überflugrechten und Stützpunkten in Europa kompensieren können, ist die EU auf die Zusammenarbeit in der Nato angewiesen. Den USA einen Rückgriff auf die Nato-Infrastruktur für einen Krieg gegen den Irak zu verwehren, würde das Militärbündnis sprengen. Mehr als eine Verzögerung ihrer Zustimmung können sich Deutschland und Frankreich derzeit nicht leisten.

Auch diese Verzögerung signalisiert jedoch den USA, dass sie sich auf die Nato nicht mehr verlassen können. Bereits vor der deutsch-französischen Offensive stellte Gnesotto ein Bestreben der US-Regierung fest, »die Union zu entzweien und bilateral mit den Mitgliedsstaaten zu verhandeln«. Die selbstherrliche Präsentation der deutsch-französischen Politik als europäische Position dürfte diesen Versuch erleichtern. Großbritannien wird sich wahrscheinlich noch enger an die USA anlehnen, und auch für Spanien und Italien, deren Regierungen der Linie Washingtons zuneigen, könnten gute Beziehungen zu den USA ein Gegengewicht zur französisch-deutschen Dominanz in Europa bilden.

Im Vertrauen auf die Stärke »Kerneuropas« suchen Chirac und Schröder auch eine Machtprobe innerhalb der EU, die die bisher erreichte europäische Integration in Frage stellt. Die kurze Epoche eines saturierten westlichen Kapitalismus, dessen politische Vertreter kein Risiko eingehen wollten, scheint mit dem Boom der neunziger Jahre zu Ende gegangen zu sein. Nicht nur in den USA, auch im »alten Europa« wird jetzt Vabanque gespielt.