Fight for the People!

In den USA gewinnt die Friedensbewegung an Schwung. Von der Antikriegsdemonstration in Washington D.C. berichtet tobias rapp

Wie viele mögen wir gewesen sein? Es sind die üblichen Zahlenspielereien, die losgehen, als alles vorbei ist und man wieder in seinem Bus sitzt, um nach Hause zu fahren. 100 000 habe es auf CNN geheißen, sagt jemand, ein anderer widerspricht, das sei nicht möglich, schon im Oktober seien es 150 000 gewesen, jetzt müsse die Zahl auf jeden Fall höher liegen, so viele Menschen seien damals nicht gekommen. Keine unwichtige Frage. Will eine Bewegung Erfolg haben, muss sie wachsen. Die Zahl der Demonstranten einfach nur zu halten, könnte nach Stagnation aussehen.

Aber wer will all die Menschen zählen? Als die Eröffnungskundgebung längst vorbei ist, als die Spitze des Demonstrationszuges schon das Ende der Protestroute erreicht hat, steigen vor dem Capitol gerade die letzten Demonstranten aus ihren Bussen. 100 000? 200 000? Mehr?

Es sind viele, sehr viele, die sich eingefunden haben, und die drei Tage nach dem Geburtstag von Martin Luther King dessen Ausspruch zu ihrem Motto gemacht haben, um gegen den drohenden Irakkrieg zu demonstrieren: »Der größte Händler von Gewalt in der heutigen Welt ist meine eigene Regierung, um der Menschheit willen kann ich nicht weiter schweigen.« Manche der Busse haben bis zu 20 Stunden Fahrt hinter sich, aus so entlegenen Bundesstaaten wie Ohio oder Colorado sind Abordnungen angereist.

Und es ist kalt, sehr kalt auf der berühmten Wiese an der Westseite des Capitols. Der Boden ist gefroren, man stiefelt durch Schneereste, haucht seinen Atem in den strahlend blauen Himmel, schlägt den Mantelkragen hoch, zieht die Mütze tiefer ins Gesicht, tritt von einem Fuß auf den anderen und freut sich, als irgendwann Hunderte von Demonstranten auf und ab springen und rufen: »Jump for peace! Jump for peace!«, um sich warm zu halten.

Es ist ein breites Bündnis, das aufgerufen hat, und entsprechend bunt gemischt ist die Liste der Redner, die im Zweiminutentakt ihre Reden halten. Sie reicht von Ramsey Clark, dem Organisator der International Answer-Coalition über die Schauspielerin Jessica Lang, diverse Würdenträger aller möglichen Kirchen und Konfessionen bis zu Gewerkschaftern und dem Reverend Al Sharpton, einem der bekanntesten schwarzen Politiker des Landes, der unlängst ankündigte, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen kandidieren zu wollen, und dessen Rede am lautesten bejubelt wird. »Happy birthday, Martin«, ruft er, »Bushs Sohn mag im Weißen Haus sein, aber deine Kinder sind heute hergekommen, um zu demonstrieren!«

Zwar ist die Zustimmung zur Irakpolitik der Bush-Administration in keinem Teil der US-Gesellschaft so niedrig wie unter den Afro-Amerikanern, doch den Weg zum Capitol haben nur wenige von ihnen gefunden. Auch Hispanics sind nicht besonders viele gekommen. Nur die Arab-Americans sind in großer Zahl angereist. Ansonsten ist der Protest zwar bürgerrechtsbewegt, aber vorwiegend weiß. Gewerkschafter, Bürgerrechtler, Feministinnen, Globalisierungsgegner, Familien – und mittendrin skandiert eine Gruppe Punks von der Revolutionary Communist Party, deren Outfit in auffallendem Widerspruch zu ihrer disziplinierten Marschformation steht: »Fight for the people! Die for the people!«

Man muss nur einigen der Redebeiträge gelauscht und einige der Flugblätter in Augenschein genommen haben, um festzustellen: Der kleinste gemeinsame Nenner aller in Washington Versammelten ist, dass man auf Seiten von »The People« steht. Das können »the iraqi people« sein, »the people of the Philipines«, »the people of Columbia«, »the peace-loving people all over the world«, »the palestinian people«, aber auch »the american people«. »If the people are united, they’ll never be divided.«

Es ist ein sonderbarer, schwer fassbarer, allen sofort verständlicher, ganz eigener US-amerikanischer Begriff, der immer wieder angerufen wird: eine Mischung aus Volk, Bevölkerung, den Leuten sowie einem selbst, also im Grunde aus allen, die guten Willens sind und das Herz auf dem rechten Fleck tragen. Es ist ein Begriff, dessen Beliebtheit nicht auf die Linke beschränkt ist. Wann immer er dazu Gelegenheit hat, beruft sich auch George W. Bush darauf, dass die »iraqi people« nur auf ihre Befreiung warteten.

An diesem Nachmittag in Washington allerdings gewinnt man eher den Eindruck, als ob dem Weltfrieden, den »the people« unzweifelhaft anstreben, nur die Machenschaften der US-Regierung im Wege stünden. Kolumbianische Gewerkschafter treten auf, eine philippinische Menschenrechtsaktivistin, wo man geht und steht versuchen einen die allgegenwärtigen Mitglieder der Palästina-Solidarität von der Gerechtigkeit ihrer Sache zu überzeugen. Überall auf der Welt, so scheint es, warten »the people« auf den Tag, an dem die Amerikaner oder ihre Schergen endlich das Feld räumen, damit dort das Paradies eröffnet werden kann.

Vielleicht ist es ja nur typisch deutsche Bedenkenträgerei, aber man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass diese Friedensbewegung keinen wirklichen Begriff von einer Situation hat, in der »the people« nicht das Gute will. Ist die Welt nicht ein bisschen komplizierter?

Andererseits braucht man vielleicht genau eine solche Konstruktion, wenn man einen Krieg verhindern will, der unbarmherzig näher zu rücken scheint und gegen den man nicht viel mehr unternehmen kann, als sich vor das Capitol zu stellen und »Nein!« zu rufen, auf die Gefahr hin, trotzdem von niemandem gehört zu werden als von all den anderen Rufern.

Vielleicht braucht es dieses Gefühl, wenn schon nicht die Macht, dann doch zumindest das Subjekt der Geschichte an seiner Seite zu haben. Und wer sollte das sein, wenn nicht ich, du, er, sie, es, die Arbeiter, die Ausgebeuteten, die Marginalisierten, die im Dunkel stehen, das Proletariat, die Multitude, kurz: The People? Es ist ein Bezug, der eine lange Tradition in der Geschichte der US-amerikanischen Gegenkultur hat und aus dem auch der beliebteste Slogan der Demonstration seine Kraft bezieht: »This is what democracy looks like!«

Jede gelungene Demonstration hat immer etwas Karnevaleskes. Es werden bestimmte Rollen angenommen, mit seiner kleinen Sicht der Wirklichkeit und dem, was man für die wichtige Konsequenz aus all diesem hält, stellt man sich neben all die anderen, denen es auch so geht. Zusammen ergibt das dann ein großes Bild, das sich zum einen nach außen kommuniziert, in das man sich aber genauso hineinidentifiziert und das man als Erinnerung und als Gefühl, sich in das Weltganze eingeordnet zu haben, mit nach Hause nimmt.

Wenn Demokratie etwas mit einem wilden und ungeordneten Nebeneinander der verschiedenen Positionen zu tun hat, dann könnte sie tatsächlich aussehen wie dieser Demonstrationszug, der durch die Straßen von Washington zieht. Vorbei etwa an einem Haus, in dem eine Studentenorganisation der Republikaner ihren Sitz hat, deren Mitglieder ein großes Transparent von ihrem Balkon gehängt haben: »Hippies Go Home!«