Exodus am Bosporus

Alte Feindbilder sind abhanden gekommen, die traditionelle politische Klasse hat ausgedient. In der Türkei vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel.

Besorgt rief der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), Horst Köhler, vergangene Woche den türkischen Wirtschaftsminister Kemal Dervis an, um zu fragen, ob alles beim Rechten sei. Schließlich hat der Währungsfonds der Türkei insgesamt 30 Milliarden US-Dollar geliehen - die größte Kreditvergabe an einen Staat in der Geschichte des IWF. Dervis ist die Vertrauensperson der Finanzmärkte im türkischen Kabinett, in das er nach der Wirtschaftskrise im Februar 2001 als parteiloser Technokrat geholt worden war.

Nach dem Massenexodus von Ministern und Abgeordneten aus der Demokratischen Linkspartei (DSP) des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit legte auch Dervis sein Amt nieder. Er verhehlte nicht, dass er an der Seite des ebenfalls zurückgetretenen Außenministers Ismail Cem und des Staatsministers Hüsamettin Özkan an der Bildung einer neuen Partei mitwirken will.

Nur nach Bitten des Staatspräsidenten Necdet Sezer und Ecevits ließ er sich darauf ein, seinen Rücktritt nicht wirksam werden zu lassen. »Es ist unmoralisch, wenn Dervis im Kabinett bleibt«, drohte daraufhin Devlet Bahceli, der Führer der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). »Er wird Regierungsgeheimnisse verraten«, warnte sein Stellvertreter Yahnici.

Faktisch ist die Regierung am Ende, vorgezogene Neuwahlen sind unausweichlich. Ecevits Partei, einst die stärkste Fraktion im Parlament, ist binnen weniger Tage zur drittstärksten Fraktion zusammengeschrumpft. MHP-Politiker vermuten ein »Komplott der internationalen Finanzmächte, um die Koalition zu stürzen.«

Doch nicht nur die Regierungskoalition befindet sich in der Krise, sondern das gesamte politische System in der Türkei. Wahlen bringen keine Mehrheiten für eine Partei. Und keine der denkbaren Koalitionen würde gesellschaftliche Mehrheiten repräsentieren.

Ruinen der politischen Klasse

Der Verdruss über die politischen Parteien im Parlament ist allgegenwärtig. Meinungsumfragen zufolge haben alle Parteien Schwierigkeiten, bei den Wahlen die Zehn-Prozent-Hürde zu überspringen.

Das gilt für die Opposition ebenso wie für das Regierungslager aus ANAP, MHP und DSP. Die ANAP (die Mutterlandspartei), die einst von Turgut Özal als Volkspartei gegründet wurde und sich dem Neoliberalismus verschrieben hatte, ist ein Trümmerhaufen.

Die MHP, die aus den faschistischen Schläger- und Mörderbanden der siebziger Jahre hervorgegangen ist und die ihre Ursprünge nicht leugnet, ist eine Truppe, die gehorsam die Anweisungen ihres Parteiführers vollstreckt. Ihre Wählerstimmen verdankte sie der nationalistischen Hysterie in der Kurdenfrage, dem bewaffnetem Kampf der PKK in den kurdischen Regionen, dem Feindbild Abdullah Öcalan. Ihre Propaganda kam erst bei den Begräbnissen getöteter Soldaten zur vollen Wirkung.

Und heute? Die PKK hat sich aufgelöst und Öcalan entwickelte sich im Gefängnis zum biederen, staatstreuen Friedensengel. Es gibt kaum mehr ein Feld, auf dem sich die MHP profilieren könnte. Immer wieder die Vollstreckung der Todesstrafe an Öcalan zu fordern, ersetzt noch kein politisches Programm.

Der MHP hat ihre Staatstreue in der Regierungsverantwortung mehr geschadet als genützt. Ihre Regierungsbeteiligung war darauf ausgerichtet, ihre Anhängerschaft über Agrarsubventionen und Jobs in den Ministerien unmittelbar zu belohnen. Das wirtschaftliche Austeritätsprogramm hat diese Möglichkeiten beschnitten. Die MHP konnte als Regierungspartei die materiellen Erwartungen ihrer Anhänger nicht erfüllen.

Ecevits DSP ist dagegen kaum als politische Partei zu bezeichnen. Sie ist ein Zusammenschluss fügsamer Parteigänger unter dem zur Legende gewordenen Ecevit. Jede innerparteiliche Bewegung, die dem Vorsitzenden unbequem ist, wird von der Oberaufpasserin der Partei, von Ehefrau Rahsan Ecevit, im Keim erstickt. Die Financial Times verglich Rahsan Ecevit mit Marie Antoinette, und die Tageszeitung Hürriyet rechnete vor, dass Frau Ecevit 10 000 Parteimitglieder aus der Partei gedrängt habe.

Von solchen Zuständen könnte die Opposition profitieren. Doch weit gefehlt. Die ehemalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller hat die DYP (die Partei des Rechten Weges) ruiniert. Selbst die Stimmen ihres traditionellen bäuerlichen Klientels sind der DYP nicht mehr sicher.

Allein die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Ak Parti) unter dem ehemaligen Oberbürgermeister Istanbuls, Tayyip Erdogan, könnte, angesichts maroder Parteien der Mitte, attraktiv für Protestwähler sein. Doch seit der politischen Krise, die 1997 unter dem islamistischen Ministerpräsidenten Necemettin Erbakan ausbrach, ist der politische Islam im Niedergang.

Erbakan köderte einst die verelendeten Massen mit dem Programm einer »gerechten Ordnung«. Es war das wichtigste Thema beim Aufstieg der islamistischen Bewegung. Doch die Erfahrungen mit der Regierung Erbakan haben diese Hoffnungen enttäuscht. Erbakans Gesinnungsgenosse Erdogan erklärt heute, dass seine Partei hinter dem wirtschaftlichen Reformkurs von Dervis stehe. Die Islamisten haben ihren wichtigsten Trumpf, nämlich sich als wirtschaftspolitische Alternative zu präsentieren, selbst aus der Hand gegeben.

Außerdem ist die islamistische Bewegung, die einst von Erbakan zusammengehalten wurde, heute zersplittert. Zwei politische Parteien konkurrieren um ihr Erbe. Und deren Ausstrahlungskraft ist beschränkt. Es will nicht funktionieren - die Islamisten haben die Mitte zu spät entdeckt und als Garanten der Demokratisierung scheinen sie unglaubwürdig.

Tayyip Erdogan genießt zwar noch als unverbrauchte politische Figur gute Chancen bei Wahlen. Die Partei wird auch an den Wahlen teilnehmen. Doch ob Erdogan selbst für das Parlament kandidieren kann, ist fraglich. Gut möglich, dass die Wahlkommission ihn nicht zulässt, weil er wegen einer antilaizistischen Rede aus seiner Zeit als Istanbuler Bürgermeister verurteilt wurde.

Hoffnung Europa

In der Türkei scheint es nur ein politisches Projekt zu geben, das die Gemüter bewegt und dem sich die Nation vorbehaltlos verschrieben hat: den Beitritt in die Europäischen Union. Der EU-Gipfel in Kopenhagen, der im Dezember diesen Jahres stattfinden soll, ist für die türkische Innenpolitik von zentraler Bedeutung. Die EU hat zugesagt, die Beitrittsverhandlungen zu beginnen, wenn die Türkei bis dahin die Kriterien erfüllt. Doch die Abschaffung der Todesstrafe, die Schaffung eines kurdischsprachigen Fernsehen und die Einführung von Kurdisch-Unterricht in Schulen sind für die MHP ein rotes Tuch. Sie blockierte entsprechende Gesetzesvorlagen der Regierung. Das war der Anfang vom Ende.

An der fixen Idee vom EU-Beitritt kommt mittlerweile im innenpolitischen Kampf in der Türkei niemand mehr vorbei. Das Versprechen Europa ist auch der ideologische Kitt, der den Massenprotest gegen das vom Währungsfonds diktierte Umstruktierungsprogramm verhindert. Ganz im Gegensatz zu Argentinien. Armut, Entbehrung - all das wird hingenommen, wenn in der Ferne das Ziel Europa, das materiellen Wohlstand für alle verheißt, winkt.

Die Beherrschten wurden in den vergangenen Jahrzehnten in Teilkämpfen mit dem Staat so aufgerieben, dass jegliche Kraft zur neuerlichen, politischen Organisation fehlt. Über 20 Jahre sind seit dem Militärputsch 1980 vergangen. Formal haben die Putschisten nur drei Jahre regiert, doch sie haben durch die Verfassung der Gesellschaft ihr Herrschaftsmodell aufgezwängt. Ob die kurdische Bewegung oder der politische Islam - sie wurden nicht nur durch Repression niedergerrungen. Weil sie politische Minderheiten repräsentieren, war es einfach, sie zuerst öffentlich zu diskreditieren und anschließend zu marginalisieren. Auch Kurden und Islamisten stimmen heute in das Lied ein, mit der EU-Mitgliedschaft werde alles besser.

Die Macht der Korruption

Die Dissidenten in Ecevits DSP zwangen durch ihren Rücktritt die Koalition in die Knie und werden aller Wahrscheinlichkeit nach vorgezogene Neuwahlen durchsetzen. Doch ein radikalerer Umbruch als eine einfache Neuwahl steht an. Die neue Partei, die sich formiert, wird in ihrer Programmatik zwischen deutscher Sozialdemokratie und Tony Blairs Labour stehen. Und im Gegensatz zu den traditionellen türkischen Parteien, in welchen der Parteiführer diktatorische Verfügungsgewalt ausüben konnten, will sie versuchen, die Parteimitglieder einzubeziehen.

An der Spitze der Bewegung steht eine Troika mit dem ehemaligen Außenminister Ismail Cem, Ecevits Organisationstalent Hüsamettin Özkan und Dervis, der offensichtlich von der Politik schon träumte, als er noch Vizechef der Weltbank war.

Es ist ein Gespann, das die Konzerne mit geballter Macht - auch mit ihrer Medienmacht - unterstützen. Die Korruptheit der etablierten Parteien und des politischen Systems ist zur Bedrohung der internationalen Märkte geworden.

Bei Meinungsumfragen vor den Massenaustritten aus der DSP wussten 70 Prozent der Türken nicht, welcher Partei sie ihre Stimme geben sollen. Wesentliche Ursache dieser politischen Ratlosigkeit ist der wirtschaftliche Einbruch vom Februar vergangenen Jahres.

Jeder türkische Lehrling konnte nach der Krise Vorträge in Nationalökonomie halten: über das korrupte politische System, das einzig zur Bereicherung der Politiker-Clique diente. Über die dubiosen Kreditvergaben der staatlichen Banken an mit Politikern befreundete Unternehmer, die in Wirklichkeit Geldgeschenke waren. Denn die Kredite wurden einfach nicht zurückgezahlt, das Geld kam aus dem Staatshaushalt. Auch die staatseigenen Betriebe, allen voran die Türkische Telekom und Turkish Airlines, wurden geschröpft.

Bei der Gründung der Drei-Parteien-Koalition unter Ministerpräsident Bülent Ecevit waren sich die drei politisch so unterschiedlichen Parteien bei der Formulierung des Regierungsprogramms schnell einig gewesen. Um die zuständigen Ministerien, denen staatliche Banken oder staatseigene Betriebe zugeordnet sind, war dagegen erbittert gefeilscht worden. Die Aussicht auf Bereicherung war wohl zu verlockend.

Nachdem das System kollabierte, machte der Währungsfonds weitere Kredite davon abhängig, dass Dervis als Aufpasser ins Kabinett geschickt würde. Und Ungeheuerliches passierte. Der Industriellenverband Tüsiad forderte ein Demokratisierungs- und Anti-Korruptionsprogramm, das in einem radikal-demokratischen Ton gehalten war. Und die Gewerkschaften applaudierten.

Angesichts der Korruptheit der heimischen politischen Klasse ist den Linksradikalen der Anti-Imperialismus verloren gegangen. Über den Internationalen Währungsfonds schimpfte kaum einer mehr. Um so mehr über die politischen Parteien.

Ungeheuerlich ist auch, dass Dervis als Manager eines Austeritätsprogramms höchste politische Popularität genießt, die er nun auch einzusetzen versucht. Nur die Aussicht auf ein Ende der Verarmung mit Hilfe des Auslands wirkt heute in der Türkei noch mobilisierend.

Abstinente Feinde

Die Paranoia war lange Zeit der Stoff für Politikerreden in der Türkei. Das von äußeren und inneren Feinden bedrohte Land, das einen Überlebenskampf gegen den Rest der Welt führt: gegen das böse Griechenland, das terroristische Syrien und den Gottesstaat Iran, ganz zu schweigen von Saddam Hussein im benachbarten Irak. Im Innern drohten zersetzende Kommunisten, separatistische Kurden und islamische Extremisten.

All die Feindbilder haben sich in den vergangenen Jahren in Luft aufgelöst. Der griechische Außenminister und sein türkischer Amtskollege küssten sich im Zuge der griechisch-türkischen Annäherung öffentlich. Griechisch-türkische Freundschaft ist angesagt, Athen und Ankara bewerben sich gemeinsam um die Austragung der Fußballeuropameisterschaft.

Die syrische Grenze ist ruhig wie eh und je. Mit dem Iran betreibt man gute Geschäfte, ebenso wie mit dem Irak, der als Inkarnation des Bösen nach dem Willen der Bush-Regierung das nächste Angriffsziel sein soll. Die Kommunisten sind keine Kommunisten mehr, und Kurdenführer Abdullah Öcalan, in Augen des türkischen Staates der Top-Terrorist, preist von seiner Zelle aus Frieden, Frieden und nochmals Frieden. Selbst die Islamisten entpuppen sich als staatstreue, biedere Bürger.

Die politische Krise in der Türkei ist auch eine Krise der von den etablierten Parteien betriebenen Ideologieproduktion, die ihren Rohstoff aus Feindbildern bezog. Es ist der Wunsch nach einer moderaten Mitte, die die Demokratisierung und die von der EU geforderten Reformen vorantreibt, die politisch mobilisiert. Und es ist eine Ironie der Geschichte, dass die vom repressiven Staat marginalisierten Bewegungen - die kurdische HADEP (die Demokratiepartei des Volkes) und die islamistischen Strömungen - eine solche Partei der Mitte unterstützen werden.

Die Vorboten des politischen Umbruchs waren die Ereignisse nach dem Erfolg der türkischen Nationalelf bei der Fußballweltmeisterschaft. Die städtischen Mittelschichten, in ihrem Selbstwertgefühl bestärkt, eroberten die Straßen Istanbuls, um der Nationalelf zuzujubeln, während alle Politiker, die sich in ihre Nähe wagten, ausgepfiffen wurden.

Die MHP, die eigentlich kein Fußballereignis auslässt, um nationalistische und Propaganda zu betreiben, war nach dem wichtigsten Erfolg des türkischen Fußballs nicht auf den Straßen präsent. Die bürgerliche Mitte hatte zumindest nach der WM die politische Hegemonie. Linke, Islamisten und Kurden waren zwar dabei, aber nur in der Rolle von Hilfstruppen. Nach diesem Vorbild könnte sich jetzt die Parteienlandschaft organisieren.