»Plattform« von Michel Houellebecq

Fuck Global

Michel Houellebecq kurbelt die postfordistische Ökonomie des Begehrens an.

Bei der Lektüre von Michel Houellebecqs neuem Roman »Plattform« sollte man nicht über jedes Stöckchen springen, das einem der Autor hinhält. Der »Skandal« war kalkuliert, und wer seine anderen Bücher gelesen hat, wird die Mischung aus Sex, Desillusionierung und lapidarem Ressentiment redundant finden.

Houellebecq manipuliert wie gewöhnlich schon mit der Wahl der Namen. Seine Protagonisten wollen stets als Alter Ego des Autors gelten, deshalb heißt der Erzähler natürlich Michel und ist Anfang Vierzig. Die Figur ähnelt ihren Vorgängern aus »Ausweitung der Kampfzone« und »Elementarteilchen«. Als Angestellter des Kulturministeriums Gast »manch denkwürdig gebliebener Vernissage«, ist sein Interesse an Kunst mittlerweile ganz verschwunden. Feste Partnerschaften sind gescheitert, Michel begnügt sich mit dem TV-Programm oder rennt in Peepshows. Selbst die Ermordung seines Vaters, mit der die Erzählung eröffnet wird, nimmt er unbewegt zur Kenntnis.

Auf einer Pauschalreise nach Thailand bestätigt sich seine Unfähigkeit zum sozialen Kontakt erneut, wenn er den Avancen Valéries, einer Mitreisenden, völlig hilflos gegenübersteht. Ein Umstand, der ihn nicht sonderlich stört, da er den Kauf sexueller Dienstleistungen ohnehin unkomplizierter findet als die Erfüllung minimaler Standards im Umgang mit sozial Gleichgestellten.

Doch nach der Reise gibt es eine überraschende Wendung. In Paris trifft er Valérie wieder und verliebt sich glücklich in sie. Ähnlich wie schon in »Elementarteilchen« scheint die Liebe in Gestalt einer psychisch, nicht sexuell »reinen« Frau - Houellebecq ist kein Spießer, nur ein moderner Konservativer - einen Ausweg aus der trostlosen Existenz zu bieten. Und ebenfalls wie in »Elementarteilchen« bricht das Unglück auf dem Höhepunkt der Harmonie herein: Valérie stirbt bei einem Anschlag islamischer Terroristen. Damit sind Plot und Struktur nicht neu, auch das Motiv der stets kopulierenden Pauschaltouristen wurde bereits in Houellebecqs Erzählung »Lanzarote« erschöpfend bedient.

Die von der Kritik noch vor Erscheinen des Buches beschworene Apologie der Kinderprostitution durch den Autor findet allerdings nicht statt. Wohl aber die der Verdinglichung des Sexuellen, seine Warenförmigkeit steht außer Frage. Dies gipfelt in der Idee zur Sex-Pauschalreise, mit der Valérie schließlich ihren Karrieredurchbruch erzielt. Der Gedanke ist einfach: »Auf der einen Seite hast du mehrere hundert Millionen Menschen in der westlichen Welt, die alles haben, was sie sich nur wünschen, außer dass sie keine sexuelle Befriedigung mehr finden. Auf der anderen Seite gibt es mehrere Milliarden Menschen, die nichts haben, kläglich verhungern, jung sterben und nichts anderes mehr zu verkaufen haben als ihren Körper und ihre intakte Sexualität.« Die Zusammenführung von Angebot und Nachfrage verspricht enormen Profit.

Dieses Konzept einer globalisierten Sexualökonomie schließt an frühere Überlegungen Houellebecqs zu einer postfordistischen Sexualökonomie an. Der Fordismus habe allen Menschen einen festen Arbeitsplatz und einen festen Sexualpartner versprochen. Die postfordistische Gesellschaft dagegen bringe das Problem einer ungleichen Verteilung sowohl von Arbeit als auch von sexueller Erfüllung mit sich. Die von der Pro-duktion ausgeschlossenen Massen des Trikont sollen mit den vom sexuellen Glück Ausgeschlossenen der westlichen Welt auf dem Markt in Austausch treten. Der Metropolenmensch sehne sich nach der Unbefangenheit, mit der man in der »Dritten Welt« noch Freude bereiten könne.

Wie die frühen Ökonomen glaubten, ein einzelner könne in exotischer Abgeschiedenheit seine Schöpfungskraft voll entfalten, sollen in dieser sexuellen Robinsonade die Deformationen der Zivilisation durch Kontakt mit dem »Urzustand« wieder aufgehoben werden. Hier zeigt sich der konservative Zug Houellebecqs, das Glück liegt im Sex, also in der Natur. Der Kapitalismus schafft das Problem, selbst die enzyklopädische Kenntnis des Markenangebots ist nutzlos und bietet keine Befriedigung, zumal es in Thailand »ausgezeichnete Imitate« gibt. Er schafft aber auch die Lösung durch Beseitigung der moralischen Schranken und Bereitstellung der Möglichkeiten, sich Befriedigung zu kaufen.

Houellebecqs »Tabubrüche« sind so in die Erzählung integriert, dass sie nicht ohne Weiteres dem Autor zur Last gelegt werden können. Die viel zitierte Beschimpfung des Islam formuliert ein Ägypter, die Freude am Vorgehen der israelischen Armee ist Rache für das Massaker, dem Valerie zum Opfer fiel. Nimmt man jedoch Interview-Äußerungen des Autors hinzu (»Der Islam ist die bescheuertste Religion der Welt«), ergibt sich eine Grundhaltung gegenüber dieser Religion, die dem Ressentiment verhaftet bleibt. Houellebecq ist weit davon entfernt, eine Religionskritik zu formulieren.

Seine Bücher sind durch solche plakativen Vereinfachungen geprägt, rassistische Strukturmerkmale finden sich zuhauf. So stehen Nordeuropäer für eine gewisse zivilisierte Harmlosigkeit. Sie werden meist als sexuell tolerant und aggressionslos geschildert. Anders dagegen Südländer, sie üben die Gewalt des Kreatürlichen aus. Michels Vater wird vom Bruder seiner moslemischen Geliebten erschlagen, die Kollegin im Vorortzug von Migranten vergewaltigt.

Während in der Firmenzentrale in einem Pariser Banlieue der große Coup vorbereitet wird, tobt in den Straßen Krieg. Die Jugendlichen der »gefährlichen Klassen« kontrollieren das Terrain und haben die Firma eingekreist. Ihnen geht es, glaubt der Erzähler, um sexuelle Macht und Teilhabe, ihre Motive unterscheiden sich in nichts von denen anderer. »Diese Jugendlichen spürten mit ihrem Instinkt von Halbwilden bestimmt die Gegenwart des Schönen. Ihr Begehren war lobenswert und entsprach vollkommen den sozialen Normen; eigentlich musste nur dessen unangemessene Äußerungsform korrigiert werden.«

Nur einmal lässt sich der Erzähler zur Utopie hinreißen. Am Ende des Buches, als Michel und Valérie endlich zur Ruhe gekommen sind und kurz bevor »drei Männer mit Turban, die Maschinenpistolen in den Händen hielten«, das Glück zerstören, findet sich ein dionysischer Wunsch: »Man hätte sich vielleicht eine völlig andre Kultur vorstellen können, die mit Festlichkeiten und lyrischen Ereignissen verknüpft war und die sich inmitten eines Glückszustandes entwickelt hätte.« Nachzulesen ist ein solches Konzept in der »Geburt der Tragödie«. Dass Houellebecqs Arbeiten nietzeanisch geprägt sind, zeigt sich nicht nur in der Fertigkeit, die eigene Meinung im gekonnten Spiel mit den Sprechorten aufzulösen. Er konstatiert drastisch den Zustand der Welt, seine Kriterien sind außermoralische.

Michel Houellebecq: Plattform. DuMont, Köln 2002, 370 S., 24 Euro