»Todesurteile in Minuten«

Interview mit Murad Mohammad*, dem Beauftragten für Menschenrechtsfragen des Oppositionsverbandes Iraqi National Congress in Arbil/Irakisch-Kurdistan

Sie sammeln seit Jahren Informationen über Haftbedingungen und Hinrichtungen im Irak. Wie viele Menschen sind augenblicklich im Irak inhaftiert?

Es ist für uns sehr schwer, Ihnen diese Frage genau zu beantworten, weil es im Irak neben den regulären Gefängnissen viele geheime Haftanstalten gibt. Aber wenn man alle uns bekannten Gefängnisse zusammenzählt, lassen sich Schätzungen abgeben. Wir vermuten, dass die Zahl der Inhaftierten im Irak zwischen 700 000 und einer Million Menschen liegt. Diese Zahlen beziehen sich auf alle Inhaftierten, also auch auf Untersuchungsgefangene, Gefangene, die ohne Haftbefehl festgehalten werden, und Insassen von Militärgefängnissen.

Das größte Gefängnis liegt in Bagdad und heißt Abu Graib, dort sind 5 000 bis 6 000 Menschen inhaftiert. Alleine in Bagdad gibt es noch fünf weitere Gefängnisse, die alle überfüllt sind. Zusätzlich unterhält jeder der Geheimdienste eigene Gefängnisse, ebenso das Militär und das Innenministerium. Dann gibt es noch die so genannten Detention Camps, in denen Leute ohne Haftbefehl und konkrete Anklage festgehalten werden.

Wie ist die Situation der Gefangenen?

Die allgemeinen Bedingungen in den Gefängnissen sind grauenhaft. Abgesehen von regelmäßig angewandter brutaler Folterung sterben dort täglich Menschen an Unterernährung oder weil ihnen Medikamente und ärztliche Versorgung vorenthalten werden. Nur in Abu Graib, wo auch diejenigen sitzen, die regulär zu langen Haftstrafen verurteilt worden sind, ist die Situation der Gefangenen etwas besser, weil ihre Familien sie versorgen dürfen. Aber selbst in Abu Graib gibt es Trakte, zu denen die Familien keinen Zutritt haben. Und das sind auch die Sektionen, die den Menschenrechtsorganisationen und dem Roten Kreuz verschlossen bleiben. Dasselbe gilt natürlich für alle Geheimdienstgefängnisse.

Ausländische Organisationen dürfen nur mit Gefangenen sprechen, die von den Sicherheitsdiensten ausgewählt werden. Sie wurden vorher auf diese Treffen vorbereitet, um so ein beschönigendes Bild der Haftbedingungen zu zeichnen.

Seit längerem berichten irakische Oppositionelle, dass Inhaftierte systematisch ermordet werden. Können Sie dies bestätigen?

Ja, das ist völlig richtig. Es ist eines der vielen schweren Verbrechen des irakischen Regimes. Seit den Volksaufständen im Jahre 1991 gibt es immer wieder Massenverhaftungen von Leuten, die verdächtigt werden, der Opposition anzugehören oder sich dissident zu verhalten. Um die große Zahl von Verhafteten schnell aburteilen zu können, hat das Regime per Dekret Sondergerichte geschaffen, die in der Verfassung nicht vorgesehen sind. Der größte Inlandsgeheimdienst, die Sicherheitsdienste des Militärs und des Innenministeriums unterhalten derartige Schnell- oder Sondergerichte. Ein Gericht untersteht Saddam Hussein persönlich.

Die Verfahren sind geheim und den Angeklagten steht keinerlei Rechtsbeistand zu. Normalerweise werden sie angeklagt, Spione zu sein, Mordattentate gegen die politische Führung oder Sabotage geplant zu haben. In der Regel werden die Angeklagten dann innerhalb von Minuten für schuldig befunden, fast alle werden zum Tode verurteilt.

Werden die Verurteilten sofort hingerichtet?

Es gibt auch quasi standrechtliche Erschießungen ohne jeden Prozess. Aber die von Sondergerichten Verurteilten lässt man warten, meist zwischen zwei und vier Wochen lang. Sie wissen, dass sie sterben werden, weil sie in besonderen Todestrakten inhaftiert sind. Aber den Tag ihrer Hinrichtung kennen sie bis zuletzt nicht. Zweimal wöchentlich finden regelmäßig Hinrichtungen statt, jeden Sonntag und jeden Mittwoch. Dabei werden jedesmal etwa 40 bis 50 Menschen getötet. Ihre Leichen werden in anonymen Massengräbern verscharrt. Üblicherweise sind an den Hinrichtungstagen Vertreter des Geheimdienstes und von Saddams Garden anwesend. Manchmal flehen die zum Tode Verurteilten in Gottes Namen um Gnade und ihnen wird geantwortet: Euer Gott ist Saddam Hussein, ihn könnt ihr anflehen.

Seit wann finden diese Exekutionen statt?

Wir wissen, dass seit 1994/95 in Abu Graib wöchentlich ungefähr 100 Menschen hingerichtet werden. Und wir reden die ganze Zeit nur über dieses Gefängnis, weil wir von dort verlässliche Zahlen und oft auch die Namen der Opfer haben. Gefangene können manchmal Kassiber herausschmuggeln. Es gibt auch einige Beamte, die uns mit Informationen versorgen. Doch auch in anderen Gefängnissen werden viele Menschen getötet. Wir haben da keine so genauen Informationen, aber wir wissen, dass es auch systematische Hinrichtungen in Mossul, Raduaniah und Al-Makassa gibt.

Demnach werden jede Woche 400 bis 500 Menschen in irakischen Gefängnissen exekutiert?

Davon müssen wir ausgehen, aber wir können die Zahl nur schätzen. Zusätzlich gibt es Exekutionen in den Detention Camps. Die dort Inhaftierten stammen aus verschiedenen Gruppen. Teilweise handelt es sich um Mitglieder der Baath-Partei selbst, die der Illoyalität angeklagt sind, etwa weil sie sich weigerten, an Verbrechen des Regimes teilzunehmen. Andere Gruppen bestehen aus Leuten mit einem religiösen Hintergrund, die zusammen mit ihren Familien in Untersuchungshaft genommen wurden. Wir sind sicher, dass sie diesen Säuberungen zum Opfer gefallen sind, weil es sehr lange her ist, dass man irgendetwas von ihnen gehört hat. Dann sind da noch beispielsweise jene etwa 8 000 Kommunisten, die 1978 festgenommen wurden. Bis heute weiß niemand, was mit ihnen wirklich geschehen ist. Wir gehen davon aus, dass sie getötet wurden.

Welche Schritte unternehmen Sie, um diese Verhältnisse zu ändern?

Nun, was in den Gefängnissen geschieht, zeigt das innerste Wesen dieses Regimes. Es kann nicht geändert, sondern nur abgeschafft werden. Wir versuchen auf verschiedenen Ebenen, das Regime zu bekämpfen. Eine Ebene ist die Forderung nach Durchsetzung der UN-Resolution 688, die vom irakischen Regime verlangt, die Unterdrückung der Bevölkerung zu beenden und die Bewegungsfreiheit für humanitäre Hilfsorganisationen zu gewährleisten. Außerdem unterstützen wir die internationale Kampagne, die Saddam Hussein und seine Clique vor ein internationales Tribunal stellen will.

Trotz intensiver Aufklärungsarbeit der irakischen Opposition haben viele Leute immer noch Illusionen über den Charakter dieses Regimes. So haben sich in letzter Zeit viele Menschen an so genannten Solidaritätsflügen in den Irak beteiligt, weil sie ihre Solidarität mit der irakischen Bevölkerung zeigen wollten. Diese Leute haben eine völlig verzerrtes Bild des Irak, und wir würden sie gerne bitten, einmal das Regime zu fragen, ob sie die Gefängnisse und Detention Camps aufsuchen können. Die Antwort des Regimes nämlich wäre Nein.

* Name von der Redaktion geändert