Die islamistische Organisation al-Qaida

Feind mit Potenzial

Die Stärke der islamistischen Organisation al-Qaida liegt nicht nur in der Häufigkeit ihrer Attentate. Der Terror destabilisiert die gesamte zentralasiatische Region.

Wenn mir jemand ein Skript angeboten hätte, in dem ein Passagierflugzeug in das World Trade Center kracht, ich hätte es als zu unrealistisch abgelehnt«, sagte der deutsche Hollywood-Regisseur Roland Emmerich wenige Tage nach den verheerenden Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten. Obwohl Emmerichs extraterrestrisches Invasionsdrama »Independence Day« nicht gerade von Realismus zeugt, reichte die Phantasie des Regisseurs bei weitem nicht für das aus, was sich am 11. September zutrug. Als Drahtzieher des schrecklichen Terroraktes vermuten die westlichen Geheimdienste den saudiarabischen Multimillionär Ussama bin Laden, den Anführer der radikal-islamistischen Terrororganisation al-Qaida (die Basis).

Seit ihrer Gründung Mitte der achtziger Jahre hat sich al-Qaida im Namen Allahs dem kompromisslosen Kampf gegen die Vereinigten Staaten verschrieben, die als Sinnbild der westlich-kapitalistischen Welt gesehen werden. Al-Qaida gilt bei den meisten westlichen Geheimdiensten derzeit als die gefährlichste und schlagkräftigste Terrororganisation weltweit.

Obwohl bin Laden bereits am Tag nach dem Anschlag jegliche Verwicklung von sich gewiesen hatte, verlieh er seiner Freude über den Schlag gegen den »Satan USA« öffentlichen Ausdruck. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass bin Laden unter dem Schutz der von den Vereinigten Staaten bis 1996 geförderten Taliban-Regierung in Afghanistan steht.

Während der sowjetischen Invasion in Afghanistan unterstützten die Amerikaner die ehemaligen Mujaheddin finanziell und militärisch. Waffen und Geld kamen mit Hilfe des pakistanischen Geheimdienstes ISI (Inter-Service Intelligence), der ebenfalls von islamischen Extremisten durchsetzt ist, in das Land am Hindukusch.

Internationale Sicherheitsexperten gehen von weltweit 5 000 al-Qaida-Kämpfern aus. Doch nicht nur der untertänige Gehorsam und die Aussicht auf das Paradies nach einem Märtyrertod machen die Mitglieder der Organisation so gefährlich. Es sind vor allem ihre weltweiten Verbindungen und Verknüpfungen, die sich weit über den arabischen Raum hinaus erstrecken.

So unterzeichnete al-Qaida am 23. Februar 1998 einen Aufruf, in dem es unter anderem heißt: »Es ist die Pflicht jedes Muslims, Amerikaner und ihre Verbündeten zu töten - Zivilisten oder Militärs - in jedem Land, in dem das möglich ist.« Zu den Mitunterzeichnern gehörten Ayman Al-Zawahiri, der Anführer der in Ägypten und den palästinensischen Gebieten aktiven Untergrundorganisation Islamischer Jihad (Heiliger Islamischer Krieg), Abu Yasir Rifa'i Ahmad Taha, der Kopf einer radikalen Islamistengruppe in Ägypten sowie Vertreter der extremistischen Jama'at Al-Ulama aus Pakistan und der radikal-islamischen Jihad-Gruppe Bangladesch. Wenige Monate nach der Deklaration vom Februar erschütterten im August 1998 die Anschläge auf US-Botschaften in Kenia und Tansania das Selbstverständnis der Amerikaner von der eigenen Unverwundbarkeit.

Einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Bericht des US-Kongresses zufolge betreibt al-Qaida Trainingslager in Afghanistan, Pakistan, Kenia, Somalia und im Sudan. Weitere Basisstationen sollen sich in Saudi-Arabien, Ägypten, dem Jemen und in Äthiopien befinden. Außerdem vermutet man unabhängige Zellen in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Kanada.

Es ist aber vor allem die dezentrale Struktur von al-Qaida, die den westlichen Geheimdiensten Probleme bereitet. Die verschiedenen Gruppen sind nur lose mit den Kommandogebern verbunden und operieren weitgehend autonom. Um den Informationsfluss zwischen den Gruppen und Zellen zu gewährleisten, unterhält bin Laden ein weitverzweigtes Kommunikationsnetz, zu dem auch Satellitentelefone gehören. Die Verbindungen al-Qaidas reichen von den tschetschenischen Rebellen um Schamil Basajew über die Islamic Liberation Party in Usbekistan, radikal-islamistische Gruppierungen in Tadschikistan, Kirgisistan und Ost-China bis nach Algerien und zur Abu Sayyaf-Gruppe auf den Philippinen.

Deshalb sind wohl auch die Solidaritätsbekundungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der vergangenen Woche nicht so sehr auf menschliche Regungen angesichts der amerikanischen Tragödie zurückzuführen. »Was heute geschehen ist, unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit des russischen Vorschlags, alle Kräfte gegen den Terrorismus zu bündeln. Russland weiß, was Terrorismus ist und kennt die Gefühle unserer amerikanischen Freunde«, meinte Putin nach den Attentaten in einer Fernsehansprache.

Dabei spielte der Präsident ganz gezielt auf Tschetschenien an, denn die Attentate in New York und Washington verschaffen ihm einen Freibrief für ein noch härteres Vorgehen in der Kaukasusrepublik, die im übrigen einzig vom Talibanregime als unabhängiger Staat anerkannt wird. Zudem fielen die Anschläge in Amerika auf den zweiten Jahrestag der Bombenattentate auf Wohnhäuser in ganz Russland. Nun ist keine Rede mehr von einer möglichen Deeskalationsstrategie in Tschetschenien, obwohl Putin im Juni dieses Jahres offenbar auf einen Frieden in der Kaukasusrepublik drängte.

Der gleiche Reflex wirkt nun auch in den zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken. »Diese Attentate waren ein großer Dienst für alle Regierungen in der Region, die den Islam als Religion der Staatsfeinde betrachten«, meint Shireen Hunter vom Institut für Internationale Studien in Washington. So regieren sämtliche Staatschefs in der Region ihre Länder despotisch oder autokratisch, und ihr Kampf gegen den Fundamentalismus dient dafür als Legitimation.

Eine besondere Rolle wird wohl Tadschikistan zukommen. Ende August mehrten sich die Berichte über mögliche Ausbildungslager der Taliban in der Republik. Die russische Regierung hat 25 000 Soldaten an der Grenze zu Afghanistan stationiert, die das Einsickern von Kämpfern der al-Qaida in Zentralasien verhindern sollen. Gerade aber die starke russische Militärpräsenz in Tadschikistan macht einen möglichen US-amerikanischen Schlag gegen Afghanistan zu einem unwägbaren Risiko, denn Russland wird es nicht hinnehmen, dass die Amerikaner sich direkt an den Grenzen seines Hinterhofs in der Region eine eigene Einflusssphäre sichern.

Im vergangenen Februar gewährte Jamal Achmed el Fadl, ein ehemaliges Mitglied von al-Qaida, einem US-Gericht Einblick in die Organisation. El Fadl selbst koordinierte Waffentransporte und war oftmals mit 100 000 Dollar in bar unterwegs. »Einen Kämpfer mit Waffen nach Tschetschenien einzuschleusen, kostete 300 Dollar«, berichtete El Fadl. Auch in Bosnien könnten Zellen des al-Qaida-Netzwerkes verdeckt operieren.

So kämpften während des Krieges von 1992 bis 1995 Hunderte Extremisten aus arabischen Ländern gegen Serbien. »Izetbegovic hat diese Leute damals geholt. Sie wollten auch in Bosnien einen islamischen Staat errichten. Nach dem Krieg hat er ihnen die Staatsbürgerschaft zugeschanzt, und viele leben noch immer hier. Ein wesentliches Anliegen unserer Regierung ist es nun, ihnen die Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen, damit wir sie aus dem Land werfen können«, erklärt Amer Kapitanovic, der Sprecher des bosnischen Außenministeriums, der Jungle World.

Al-Qaida verfügt aber nicht nur über die modernsten Waffen - Sicherheitsexperten vermuten darunter auch Boden-Luft-Raketen -, sondern vor allem über ein solides finanzielles Fundament. Neben dem auf 300 Millionen Dollar geschätzten Privatvermögen bin Ladens sichern nach US-Angaben zwei Investmentfirmen, ein landwirtschaftliches Unternehmen sowie eine Bau- und eine Transportfirma die finanzielle Basis der Organisation ab.