Bilanz des Terrors

Die Regierung von Silvio Berlusconi gerät nach den Polizeiexzessen von Genua national und international in die Kritik.

Danke Scajola. Ich war seit 23 Jahren nicht mehr auf der Straße.« Mit diesem Ausspruch bedankte sich ein älterer Herr im Jacket auf einer Demonstration in Rom am vergangenen Dienstag beim italienischen Innenminister. Insgesamt gingen an diesem Tag in ganz Italien mehr als 250 000 Menschen auf die Straße, um gegen die Polizeigewalt während des G 8-Gipfels in Genua zu demonstrieren. Die größten Kundgebungen mit jeweils 30 000 bis 50 000 Teilnehmern fanden außer in Rom in Mailand, Venedig und Bologna statt. 15 000 Genuesen eroberten ihre Stadt zurück - mit einem Sit-In direkt vor dem Palazzo Ducale, in dem der Gipfel wenige Tage zuvor getagt hatte.

In allen Städten waren Demonstranten zu sehen, die noch Verbände trugen, humpelten oder blaue Flecken am Körper hatten. Einige trugen Schilder mit der Aufschrift: »Überlebende von Genua«. Zu den verschiedenen Gruppen der italienischen Globalisierungsgegner gesellten sich erstaunlich viele ältere Leute, elegant gekleidet und nicht unbedingt links orientiert. Offensichtlich haben der Tod eines Demonstranten und die Bilder von den Ausschreitungen der Ordnungskräfte auch viele berührt, die sich sonst nicht mit der Antiglobalisierungsbewegung identifizieren.

Die Ereignisse von Genua bleiben weiterhin auf den Titelseiten der Zeitungen und in den Fernsehnachrichten. Das öffentliche Fernsehen strahlt allerdings immer seltener Bilder von den gewalttätigen Auseinandersetzungen selbst aus. Statt dessen wird gezeigt, wie die Polizei auf Menschen mit erhobenen Händen einschlägt, und auch den Opfern der entfesselten Polizeigewalt wird in Interviews viel Platz gegeben. Zeitungen wie die linke il manifesto oder die liberale la Repubblica publizieren täglich neue Augenzeugenberichte.

Am Sonntag kommentierte Giorgio Bocca im Editorial von la Repubblica: »Nennen wir es nicht Faschismus, nennen wir es ein Regime. Es Faschismus zu nennen, wäre nicht korrekt, die Geschichte wiederholt sich nicht. (...) Doch nach Genua muss die Opposition zu dieser Regierung fürchten, mit gebrochenen Knochen zu enden.«

La Repubblica veröffentlichte darüber hinaus Interviews mit Polizisten verschiedener Einheiten, die die Folter in der Kaserne Bolzaneto bestätigen und sich nun gegenseitig beschuldigen. So sagte ein Carabiniere: »Die Berichte sind alle wahr. Es war sogar noch schlimmer.« Verantwortlich für die Misshandlungen sei die Gruppo operativo mobile (Gom). Dieses berüchtigte mobile Einsatzkommando wird nur bei besonderen Aktionen eingesetzt, etwa bei Gefängnisaufständen oder Transporten von Mafia-Angehörigen. In den letzten Jahren ist die Gom immer wieder wegen Misshandlungen und maßloser Brutalität gegenüber Gefangenen in die Schlagzeilen gekommen.

Inzwischen forderte auch der Vorsitzende der Gewerkschaft der Gefängnispolizei, Fabrizio Rossetti, die Abschaffung dieser Sondereinheit: »Die Operationen der Gom sind nur schwer zu kontrollieren, es ist unklar, wer die Verantwortlichen sind. Das kann zu einem Verhalten geführt haben, das außerhalb der Regeln steht.« Ein von la Repubblica interviewter Beamter der Gom sagte dagegen: »Die Polizei versucht, uns zu beschuldigen. Aber wir waren die Einzigen, die nichts gemacht haben.«

Nach offiziellen Angaben wurden in Genua über 280 Demonstranten festgenommen. Doch wahrscheinlich wurden in der Kaserne Bolzaneto, die in den italienischen Medien inzwischen als »Lager« bezeichnet wird, 500 Demonstranten erkennungsdienstlich erfasst und misshandelt. Innenminister Claudio Scajola von Silvio Berlusconis Partei Forza Italia aber gibt sich gelassen. Er deutete die Ereignisse von Genua als einen Triumph der inneren Sicherheit: »Die Rote Zone ist nicht angegriffen worden. Die Arbeit ist nicht wie bei anderen Gipfeln in Seattle, Göteborg oder Nizza gestört worden«. Zugleich war seine Parlamentsrede in der vergangenen Woche eine Warnung. Die Ereignisse würden nicht ohne Konsequenzen bleiben. Die Verantwortlichen sieht er beim Genoa Social Forum, dem Netzwerk No Global und den Tute Bianche.

Den Überfall auf die Schule Diaz bezeichnete er als eine Initiative der lokalen Polizei, über die er nicht informiert gewesen sei. Doch die Aktion sei völlig in Ordnung gewesen: »Die Beamten wurden angegriffen. Und bei der Durchsuchung wurden Waffen und Molotow-Cocktails gefunden und darüber hinaus gefährliche Personen aus dem schwarzen Block festgenommen.« Das erklärte Scajola noch, als bis auf einen alle der 93 in der Schule Festgenommenen bereits wieder freigelassen worden waren.

Der italienische Polizeichef, Gianni De Gennaro, behauptete dagegen, der Innenminister sei ständig über alle Einsätze informiert gewesen. Die Razzia in der Schule scheint direkt aus Rom angeordnet worden zu sein. De Gennaro schickte seinen Sprecher Roberto Sgalla, um die Aktion vor Ort zu leiten. Erst als die Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen zu den Vorfällen in der Schule Diaz übernommen hat, am Donnerstag ankündigte, dass eventuell auch Scajola vernommen werden müsse, schwenkte der Polizeichef um. Scajola sei erst nach vollbrachter Tat benachrichtigt worden, versuchte De Gennaro den Innenminister zu retten.

Der Mitte-Links-Opposition hatte es nach dem Wochenende von Genua zunächst die Sprache verschlagen. Erst am Dienstag vergangener Woche beantragte sie ein Misstrauensvotum gegen Scajola. Bei der kommenden Abstimmung wird sie zwar nicht über genügend Stimmen verfügen, den Innenminister zu stürzen. Doch die Debatte dürfte für Scajola unangenehm werden. Auch Justizminister Robert Castelli von der Lega Nord hat Schwierigkeiten zu erwarten. Am Wochenende wurde bekannt, dass er während des Gipfels am Samstag gegen Mitternacht die Kaserne Bolzaneto besucht hatte. Von Misshandlungen will er nichts bemerkt haben, stattdessen äußerte er sich zufrieden über die Arbeit der Ordnungskräfte.

Den Antrag der Opposition auf eine parlamentarische Untersuchungskommission zu den Ereignissen rund um den G 8-Gipfel schmetterte die Regierung mit ihrer Mehrheit im Parlament am vergangenen Donnerstag ab. Der Tonfall in der Auseinandersetzung hat sich verschärft. Am Montag hatte die Opposition ihre Forderung nach Scajolas Rücktritt lediglich damit begründet, dass in Genua die öffentliche Ordnung nur ungenügend gewährleistet gewesen sei. Drei Tage später aber sprach der ehemalige Premierminister Massimo D'Alema im Parlament von »Gewalt nach faschistischer Art«, die die Ordnungskräfte ausgeübt hätten. Nun könnte es hinter den Kulissen zu einem Deal kommen. Die Opposition lässt den Misstrauensantrag fallen und Berlusconis Haus der Freiheit stimmt dafür im Senat einer Untersuchungskommission zu.

Während Innenminister Scajola weiterhin seine »höchste Solidarität mit der Polizei und den Carabinieri« ausdrückte, verschärfte sich die Kritik an dem Vorgehen der Polizei auch international. Zahlreiche europäische Nachbarstaaten mussten ihre Konsulatsbeamten auf die Suche nach verhafteten, verletzten und verschwundenen Staatsbürgern in die Gefängnisse schicken. Spanien, Großbritannien, Deutschland und Frankreich verlangen inzwischen eine Aufklärung der Ereignisse. Die Empörung in den anderen EU-Ländern könnte die italienische Regierung in Bedrängnis bringen. La Repubblica titelte nach der Reise des grünen Bundestagsabgeordneten Christian Ströbele nach Genua: »Deutschland klagt Italien an«.

Die Regierung sieht das anders, Außenminister Renato Ruggiero verkündete: »Von den europäischen Regierungen ist mir keine Kritik zu Ohren gekommen, lediglich Anfragen nach genaueren Informationen.« Ministerpräsident Silvio Berlusconi feiert den G 8-Gipfel als einen »Erfolg« und verspricht: »Es wird keine Deckung geben für jemanden, der das Gesetz verletzt. Doch es darf auf keinen Fall verwechselt werden, wer angegriffen hat und wer das Gesetz und die öffentliche Ordnung verteidigt hat.«

Doch die Vorwürfe kommen inzwischen auch von völlig unverdächtiger Seite. So erklärten die Anwälte der römischen Strafkammer, dass die Misshandlung der Verhafteten eines demokratischen Landes nicht würdig seien. Sie kündigten eine Klage vor dem Europäischen Strafgerichtshof in Strasbourg wegen völliger Missachtung der verfassungsrechlichen Prinzipien an.