Suche nach Stasi-Akten

BKA auf Schnipseljagd

Im Prozess gegen fünf mutmaßliche Mitglieder der Revolutionären Zellen könnten verschwundene Stasi-Akten noch eine große Rolle spielen.

Am 9. September 1982 passiert IM Beate Schäfer einen der Grenzübergänge von West- nach Ostberlin. Wie schon öfters in den vergangenen Monaten trifft sie sich bei Kaffee und Kuchen in einer konspirativen Wohnung mit dem Genossen Helmut Voigt. An diesem Nachmittag erstattet die informelle Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR wieder ausführlich Bericht über die linke Szene im Westen, immer die Fragen des Geheimdienstlers beantwortend: »Wer macht was?« Vor allem aus dem Rhein-Main-Gebiet kann IM Beate Schäfer, die taz-Journalistin Brigitte Heinrich, viel erzählen.

Ihr Gegenüber ist führender Offizier im Range eines Majors der für Terrorabwehr zuständigen Hauptabteilung XXII des Ministeriums für Staatssicherheit. Den Stasi-Mann interessieren vor allem die Stadtguerilla-Gruppen im Westen. Seine Aufträge lauten: »operativ-analytische Verfolgung der Aktivitäten der Revolutionären Zellen (RZ)« sowie »Erfassung aller Personen mit RZ-Bezügen und Einleitung einer differenzierten operativen Bearbeitung«.

Gemessen an diesen Vorgaben sind die bei der Gauck-Behörde heute noch vorhandenen Akten sehr lückenhaft. Zum Beispiel fehlen sämtliche Jahresberichte zu den RZ seit Mitte der achtziger Jahre, obwohl »wegen laufender Ermittlungen« offiziell nur die Akten zur Carlos-Gruppe und ihrem Umfeld für die Öffentlichkeit gesperrt sind. Wohin die fehlenden Akten verschwunden sind, ist nicht geklärt.

Möglicherweise hat sie in den Tagen der Wende ein Stasi-Mitarbeiter mit nach Hause genommen und verbrannt. Oder sie an eine interessierte westdeutsche Behörde verkauft. Oder aber die Akten liegen als Papierschnipsel in den Flugzeughangars in Zünsdorf bei Berlin. Dort werden seit Jahren Millionen durch den Reißwolf gedrehter Akten in archäologischer Kleinarbeit zusammengesetzt.

Deshalb ist unbekannt, wie viele und welche dieser Akten sich heute in den Händen der Bundesanwaltschaft (BAW) und des Bundeskriminalamts (BKA) befinden. Doch im Dezember vergangenen Jahres bestätigte der lange Jahre für die RZ zuständige Fahndungsleiter beim BKA, Klaus Schulzke, im Prozess gegen den früheren RZ-Aktivisten Tarek Mousli, dass dessen Aussagen zum Teil mit Stasi-Akten übereinstimmen. Akten dieses Inhalts aber sind bei der Gauck-Behörde nicht zu finden.

Der Verdacht, Mousli könnte mit Informationen aus den verschwundenen Akten präpariert worden sein, bekam vorige Woche zusätzliche Nahrung. Im Prozess gegen die mutmaßlichen RZ-Mitglieder Rudolf Schindler, Sabine Eckle, Harald Glöde, Matthias Borgmann und Axel Haug vor dem Berliner Kammergericht fanden deren Anwälte über eine Aktennotiz heraus, dass dem Kronzeugen Mousli umfangreiche Akteneinsicht gewährt wurde. Diese Woche nun soll die BAW Auskunft geben, warum die Akten überlassen wurden und ob nicht auch die der Stasi darunter sind. Auch der frühere BKA-Fahnder Schulzke wird als Zeuge erwartet.

Möglich, dass er noch mehr über die Übernahme des DDR-Herrschaftswissens durch die Westfahnder zu berichten weiß. Gleichzeitig mit dem Zusammenbruch der DDR begannen die Ermittler damals, Jagd auf die umfangreichen Akten der Stasi zu machen. So berichtet das ehemalige RZ-Mitglied Gerd Schnepel, dass BKA-Beamte im Frühjahr 1991 bei ihm mit der Bemerkung, sie seien die »Nachlassverwalter der Stasi«, vor der Haustür standen.

Hinweise auf die Aktivitäten Schnepels in den Revolutionären Zellen hofften die Ermittler den Akten über die Carlos-Gruppe entnehmen zu können. Doch die Richter beim Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe lehnten die Ausstellung eines Haftbefehls gegen Schnepel wegen Rädelsführerschaft in der RZ ab. Stasi-Unterlagen als Beweise reichten ihnen nicht aus.

Auch den BGH-Richtern war aufgefallen, wie widersprüchlich die Akten oft sind. So wird etwa die später der Mitgliedschaft in der Carlos-Gruppe bezichtigte Christel Fröhlich in den Stasi-Akten schon 1970 den RZ zugerechnet, obwohl diese erst im Herbst 1973 gegründet wurden. Und in der Akte von IM Beate Schäfer findet sich so ziemlich alles, was die taz-Journalistin zu dem Thema zu wissen vorgab. Von einer Frau Y. ist beispielsweise die Rede, die »fest zur RZ im Raum Ff/M. gehört«. Oder von einem Journalisten, der über »Kontakte zu Sicherheitsbehörden verfügt« und von dem Anfang 1982 die Warnung vor einer Polizeiaktion gegen die RZ gekommen sein soll.

Immerhin könnten die informellen Erkenntnisse aus diesen Akten einen Erklärungsansatz für den erbarmungslosen Verfolgungswillen von BAW und BKA im Fall Rudolf Schindler liefern. In den jährlichen Lageberichten der Stasi zu Beginn der achtziger Jahre wird der Mann, der im Frankfurter Opec-Prozess im Februar bereits freigesprochen wurde und nun in Berlin erneut vor Gericht steht, immer wieder zusammen mit drei anderen Personen als einer der Führungsköpfe der Inlands-RZ benannt. Gleichzeitig wird in anderen Akten festgestellt, dass er sich in diesen Jahren in Südeuropa aufgehalten habe.

Die durchaus widersprüchliche Politik der Stasi in Sachen RZ lässt sich zum einen aus der Angst der DDR-Sicherheitsbehörden vor einer Ausweitung der RZ-Aktivitäten auf die DDR erklären. So mobilisierte die Stasi einerseits etliche IMs, als Mitte der achtziger Jahre eine Duisburger Wohngemeinschaft mit »RZ-Bezug« einen privaten Ausflug nach Jena machte. Andererseits warnte das MfS im Dezember 1987 mehrere vermeintliche RZ-Mitglieder telefonisch vor einer groß angelegten Durchsuchungsaktion des BKA, sodass einigen rechtzeitig die Flucht gelang. Das zumindest berichten ehemalige RZ-Mitglieder in ihrem im April veröffentlichten Papier mit dem Titel »Rauchzeichen«.

Wie selektiv die Fahnder die Stasi-Akten lesen, zeigt ein weiterer Bericht von IM Beate Schäfer. So könnte Voigts Aktennotiz, wonach seiner Informantin eine Person namentlich bekannt sei, die wisse, welche Gruppe der RZ den tödlichen Anschlag auf den hessischen Wirtschaftsminister Karl-Heinz Karry im Mai 1981 verübte, durchaus noch Folgen haben. Denn ein paar Zeilen weiter heißt es, dass es sich »bei der Tötung von Karry wirklich nur um ein Versehen handelte«. Trotzdem versucht die Bundesanwaltschaft, gegen den auch in Berlin angeklagten Rudolf Schindler ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Mordes an Karry zu konstruieren.

Über ihre Motive kann man Brigitte Heinrich heute nicht mehr befragen. Sie starb im Dezember 1987 an Krebs. Jahrelang war sie im antiimperialistischen Kampf aktiv, saß wegen Waffenschmuggels von der Schweiz in die BRD mehrere Monate im Knast, war Abgeordnete der Grünen im Europa-Parlament und seit Anfang der achtziger Jahre Lebensgefährtin des RAF-Anwalts Klaus Croissant.

Auch er erstattete unter dem Namen IM Taler fast monatlich in Ostberlin Bericht. Doch von ihm finden sich in den Akten der Gauck-Behörde nur noch die Kassenbelege seiner Aufwandsentschädigungen, seine IM-Berichte sind verschwunden. Vermutlich haben Croissant und Heinrich wegen ihrer unverhohlenen ideologischen Nähe zu den DDR-Machthabern den Kontakt mit der Stasi gesucht. Zudem sind IM Beate Schäfer und IM Taler nicht die einzigen Spitzel. In der zentralen Aktenverwaltung der Stasi werden noch IM Peter und Petra Lange als Spezialisten für das Thema RZ geführt. Doch auch von ihnen fehlen alle Akten, ihre Identität ist nicht bekannt. Allein die Kassenbelege sind noch zu finden.