Zwei, drei, viele Zellen

Eine flexible Auslegung des Paragrafen 129a macht es möglich: Der im Opec-Verfahren freigesprochene Rudolf Schindler muss wieder vor Gericht, und das Berliner Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der Revolutionären Zellen wird ausgesetzt.

Zurück auf Los: Kaum hat Mitte März der Prozess gegen vier angebliche Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ) begonnen, ist er auch schon wieder zu Ende. Zumindest vorübergehend. Bis Mitte Mai soll das Verfahren gegen Sabine Eckle, Axel Haug, Harald Glöde und Matthias Borgmann ausgesetzt werden. Denn auch Rudolf Schindler soll nun auf die Anklagebank des Berliner Kammergerichts. Also braucht es Zeit. Schließlich muss sich der Frankfurter nun durch rund 115 Aktenordner wühlen, die der Anklage zu Grunde liegen.

Wie den anderen Angeklagten wirft ihm die Bundesanwaltschaft (BAW) Mitgliedschaft in den RZ vor. Die Rechtsgrundlage bildet der Antiterrorparagraf 129a. Schindler, der von 1978 bis 1991 mit seiner Lebensgefährtin Eckle abgetaucht war, soll an Aktionen der militanten Gruppe in den achtziger Jahren beteiligt gewesen sein. Im Kampf gegen »imperialistische Flüchtlingspolitik« hatten die RZ damals einen Asylrichter, einen Leiter der Berliner Ausländerpolizei sowie zahlreiche Objekte angegriffen, die mit deutscher Asylpolitik zu tun hatten. In Schindler sieht die BAW einen Rädelsführer.

Doch bis vor wenigen Tagen war noch nicht einmal klar, ob überhaupt gegen ihn verhandelt wird. Erst am Freitag der vorletzten Woche entschied der Bundesgerichtshof (BGH), dass dem 58jährigen nun ein zweites Mal der Prozess gemacht werden darf. Zuvor hatte sich das Berliner Kammergericht quer gelegt. Über Schindlers RZ-Mitgliedschaft sei bereits im Frankfurter Verfahren um den Überfall auf die Wiener Opec-Konferenz 1975 geurteilt worden, meinten die Berliner Juristen, also dürfe nicht noch einmal in derselben Sache verhandelt werden.

Das wiederum sahen die Karlsruher Richter anders. Die RZ-Gruppe, der Schindler von 1975 bis 1978 angehört habe, sei wegen der »zwischenzeitlichen Umstrukturierung und des Wandels in den Zielsetzungen bei den Revolutionären Zellen in den Jahren 1976 bis 1981 nicht die gleiche terroristische Vereinigung nach Paragraf 129a« wie die Berliner Zelle, meint das oberste Gericht. Also handele es sich um verschiedene Straftaten.

Eine ungewöhnliche Begründung. Bisher hatten die Strafverfolger immer die Kontinuität von RAF oder RZ betont, um einen möglichst großen Spielraum für deren Verfolgung zu sichern. Vor allem, um der bewaffneten und militanten Organisationen Herr zu werden, wurde der Paragraf 129 schließlich Mitte der siebziger Jahre um das »a« von kriminellen auf so genannte terroristische Vereinigungen, sprich Stadtguerilla-Gruppen, erweitert.

Waren diese Gruppen erst einmal strafrechtlich als terroristische definiert, konnte jedes Mitglied zur Verantwortung gezogen werden, unabhängig von seiner Beteiligung an konkreten Aktionen. Nie wäre ein Bundesanwalt auch nur auf den Gedanken gekommen, die RAF der siebziger Jahre von den Anfang der Neunziger unter diesem Namen Agierenden zu trennen. Dass die Militanten, die beispielsweise 1972 das Heidelberger Headquarter der US-Army angriffen, personell und inhaltlich rein gar nichts mit jenen zu tun hatten, die knapp 20 Jahre später den Weiterstädter Knastneubau in seine Bestandteile zerlegten, störte die Strafverfolger bislang wenig.

Dennoch war Schindlers Anwalt Hans Euler von der BGH-Entscheidung nicht überrascht. Die RZ hätten schließlich »immer für sich in Anspruch genommen, als jeweils autonome Zelle unabhängig voneinander zu agieren«. Zwar seien Infos weitergegeben und politische Diskussionen gemeinsam geführt worden, doch im Zusammenhang mit den strafrechtlich relevanten Aktionen könne nicht von einer Organisation die Rede sein. Vor allem aber habe sein Mandant im Frankfurter Verfahren selbst angegeben, dass er »bis zur Wiederaufnahme seiner politischen Aktivitäten Mitte der achtziger Jahre keine strafbaren Handlungen begangen und keiner verbotenen Organisation angehört« habe.

Dieser Aussage sind die Karlsruher Richter jetzt, wenn auch mit Einschränkungen, auf Drängen der BAW gefolgt. Zumindest bis 1981 sei nach Schindlers Abtauchen »eine Unterbrechung in der Mitgliedschaft« eingetreten, meint der BGH. Die Nebeneffekte der Aussage scheint das oberste Gericht hinzunehmen. Etwa dass der Beschluss den Angaben in den Akten der Ostberliner Stasi widerspricht, die wiederum von der BAW gern als Beweise für die Glaubwürdigkeit des einzigen Zeugen gegen die jetzt Angeklagten, des Kronzeugen Tarek Mousli, zitiert werden. Dort wird Schindler gerade zu Beginn der achtziger Jahre als eine »Führungsfigur der RZ« eingeschätzt.

Näher liegt allerdings der Verdacht, dass die Juristen den von Schindler genannten Zeitpunkt seiner »Wiederaufnahme politischer Aktivitäten« in ihrer eigenen Beurteilung um vier Jahre zurückdatieren, um den 58jährigen für den Mord am hessischen Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry im Mai 1981 verantwortlich machen zu können.

In der aktuellen Strafsache scheint man sich aber einig. Schindler zeigt nach Worten seines Anwalts die Bereitschaft, sich schnell in die Akten einzuarbeiten; Bundesanwälte, Gericht sowie die Verteidigung von Schindlers Frau Sabine Eckle arbeiteten derweil an einer Verbindung der Verfahren. Mit einer umfangreichen Besetzungsrüge etwa verzögerte Eckles Rechtsanwalt Johannes Eisenberg den Beginn des Verfahrens, und die Gerichtsvorsitzende Gisela Hennig nutzte ihrerseits jede Gelegenheit, um den gerade begonnenen Prozess zu vertagen. Bis zum dritten Prozesstag am vergangenen Donnerstag waren die Bundesanwälte denn auch nicht einmal dazu gekommen, die Anklageschrift zu verlesen, was die Entscheidung zur Einbindung von Schindlers Verfahren freilich einfacher machte.

Für die Anwälte und Anwältinnen der weiteren Angeklagten stehen andere Interessen im Vordergrund: die seit elf bzw. 14 Monaten andauernde Untersuchungshaft ihrer Mandanten. Also quittierten sie Hennigs Frage nach einer Zustimmung zur Verbindung der Verfahren mit einem gemeinsamen »weder Ja noch Nein«. Mit einer Zusammenlegung der Prozesse müsse eine mündliche Haftprüfung einhergehen, forderte Borgmanns Verteidigerin Edith Lunnebach im Namen ihrer Kollegen und Kolleginnen. Schließlich seien nicht die Angeklagten verantwortlich für die Verzögerung der Hauptverhandlung.

Gerade deshalb hätte die Forderung nach einer Haftverschonung sicher schärfer formuliert werden können. Doch augenscheinlich gibt es hier unterschiedliche Prioritäten. Und möglicherweise auch verschiedene Vorstellungen davon, wie vor Gericht agiert wird.

Dabei besteht auch für den eigens zum Berliner Prozess am vergangenen Donnerstag angereisten Anwalt Schindlers, Hans Euler, kein Zweifel, dass sein Mandant, der nach dem BGH-Beschluss wieder inhaftiert wurde, entlassen werden muss. Einen Monat lang war der 58jährige nach seinem Freispruch im Opec-Verfahren auf freiem Fuß, nahm sich eine Wohnung, arbeitete am alten Arbeitsplatz und besuchte Sabine Eckle im Gefängnis. Wieso also, fragt der Frankfurter Jurist, soll hier Fluchtgefahr bestehen? »Sollte die Haftfrage nicht zu Gunsten meines Mandanten entschieden werden«, erklärte Euler, »ziehe ich vor das Bundesverfassungsgericht.«

Über die nähere Zukunft der anderen vier Gefangenen entscheidet zunächst Richterin Hennig. Sie akzeptierte die Forderung der Verteidigerin Lunnebach und kündigte eine mündliche Haftprüfung an, die unmittelbar nach der geplanten Aussetzung des Prozesses am Donnerstag dieser Woche stattfinden soll.

Bislang sind alle Anträge der Angeklagten auf Haftverschonung gescheitert. Wie bei Schindler musste auch bei ihnen die Fluchtgefahr als Ablehnungsgrund dienen, obwohl sie über einen festen Wohnsitz und stabile Lebensverhältnisse verfügen. Dass diese Bedingungen gewöhnlich als Voraussetzungen gelten, um Untersuchungshäftlinge freizulassen, störte die zuständigen Richter bislang wenig. Schließlich gibt es eine gesetzliche Regelung, die Ausnahmen ermöglicht: den Paragrafen 129.

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