68er-Debatte in Frankreich

Die spinnen, die Gallier

Die französische 68er-Debatte beschäftigt sich nicht mit Steinwürfen und Militanz, sondern mit Sex und Moral. Daniel Cohn-Bendit soll am Sittenverfall schuld sein.

Auch Frankreich hat seine 68er-Debatte. Sie wurde ebenfalls von Bettina Röhl angestoßen, und genau wie in Deutschland streitet man eigentlich gar nicht über 1968, sondern über die Siebziger. Das sind aber auch schon alle Gemeinsamkeiten.

Denn es geht nicht um die Teilnahme an militanten Demonstrationen, es geht um folgende Zeilen, die Bettina Röhl der französischen Presse zuspielte und die im bürgerlich-konservativen Wochenmagazin L'Express am 22. Februar erschienen. Sie stammen von Daniel Cohn-Bendit, standen 1976 in der Zeitschrift Das da und schildern seine Erfahrungen als Erzieher in einem antiautoritären Kindergarten in Frankfurt/Main: »Es ist mir mehrmals passiert, dass bestimmte Kinder meinen Hosenschlitz aufmachten und anfingen, mich zu kitzeln. Ich reagierte auf unterschiedliche Weise, je nach den Umständen, aber ihr Begehren stellte ein Problem für mich dar. Ich fragte sie: 'Warum spielt ihr nicht miteinander, warum habt ihr mich ausgesucht und nicht die anderen Kinder?' Aber wenn sie darauf bestanden, dann streichelte ich sie trotzdem.«

Diese wenigen Sätze, die im Zusammenhang mit der Frage stehen, ob und wann man als antiautoritärer Erzieher den Kindern Grenzen setzen dürfe, dienen jetzt als Grundlage für den Vorwurf des »Kindesmissbrauchs« gegen den ehemaligen Studentenführer. Und das ist nicht das einzige: Seit seiner Veröffentlichung wird der Text Cohn-Bendits von der konservativen Presse zum Anlass genommen, mit dem Mai 1968 und seinen Folgen abzurechnen. Damals sei die Autorität der Familie untergraben, das soziale Wertsystem zerstört und alles Heilige entweiht worden - das habe Perversionen aller Art Tür und Tor geöffnet.

So hieß es in einem Leitartikel der konservativen Tageszeitung Le Figaro unter der Überschrift »Die Niederlage des Mai 68«: »Wer hätte sich das vorgestellt ? Dass eine ganze Generation von Polit-Aktiven aufgefordert würde zu 'bereuen'? (...) Die Mehrheit verweigert anscheinend diese 'Erinnerungsarbeit', die sie so gerne anderen abverlangt. (...) In den letzten Tagen hat ebenfalls der Prozess gegen die Ideologie der 'Regelüberschreitung' und des Jugendkults begonnen, die von dem Slogan 'Es ist verboten zu verbieten' inspiriert war.«

Ganz ähnlich wie in Deutschland, wo den 68ern vorgeworfen wird, sie hätten sich politisch nicht von der Generation ihrer Väter unterschieden, versuchen auch die französischen Konservativen, den Gestus der Frage, wo man »damals« gewesen sei, gegen die Linke auszuspielen. »Die 68er Generation, die Pflicht zur Erinnerung an die Vichy-Vergangenheit und an den Algerienkrieg predigt, ist noch nicht fertig damit, eine Bilanz ihrer eigenen Vergangenheit zu ziehen«, schrieb etwa L'Express.

Doch trotz dieser Parallelen in der Rhetorik unterscheiden sich die französischen 68er deutlich von den deutschen. Einerseits gibt es in Frankreich mit Ausnahme Cohn-Bendits keine prominente Figur aus der Linken jener Zeit, die es in eine Führungsposition in der offiziellen Politik geschafft hätte. Und andererseits sind einige Züge des »Kulturwandels«, der auf die 68er-Revolte folgte, östlich des Rheins auf viel breiterer Ebene in den Alltag eingedrungen.

So entwickelt sich die WG-Kultur in Paris nur zaghaft und erst seit wenigen Jahren, während sie in Deutschland seit den Siebzigern auch außerhalb linksalternativer Kreise zum Alltagsleben gehört. Allerdings hat Frankreich das politische Erbe jener Zeit, eine Form von sozialer Radikalität, übernommen. Einige der Wortführer des Pariser Mai 68, wie Alain Krivine und Daniel Bensaïd, sind noch immer in der staatsfernen, marxistischen Linken aktiv.

Während die deutschen Grünen sich spätestens nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenschluss mit Bündnis 90 von ihrer linken Vergangenheit lossagten, wurde dies in Frankreich erst mit Daniel Cohn-Bendit, der 1999 Wahlkampf für die Grünen machte, zum sichtbaren Phänomen. Seinen marktkonformen Kulturliberalismus im Post-68er-Geist nannte er liberal-libertär. Genau diesen Geist beschwören nun einige Konservative, wenn sie der Linken vorwerfen, im Bunde mit der Kulturindustrie die traditionellen Werte zu zerstören und so einem neuen Konformismus zum Sieg zu verhelfen.

Im Gegensatz zum Figaro mahnen die beiden anderen großen Tageszeitungen, Le Monde und Libération, zu Vorsicht und Differenzierung. Nicht zu vergessen sei, welches extrem muffige Klima vor dem Mai 1968 in Sachen Ordnung, Familie und Sexualmoral in Frankreich herrschte, wo selbst der Gebrauch von Verhütungsmitteln zwischen 1919 und 1967 gesetzlich verboten war.

Die 68er hätten die Sexualität aus dem verschämten Winkel des Nicht-Öffentlichen, Schandhaften herausgeholt und eine Debatte über ihre verschiedenen Aspekte ermöglicht. Erst durch diese Politisierung sei es möglich geworden, Vergewaltigung und Missbrauch insbesondere innerhalb der Familie anzuprangern.

Gegen die These, die »Permissivität« der Moderne habe solche Verbrechen erst möglich gemacht, spricht allein schon die Entwicklung der Gesetzgebung im französischen Sexualstrafrecht: Ursprünglich, bis ins 19. Jahrhundert hinein, existierte keinerlei Gesetz zum Schutze der sexuellen Integrität der Kinder. Im Jahre 1832 wurde erstmals der Tatbestand der »Verführung Minderjähriger« eingeführt. Doch zugleich wurde die »sexuelle Volljährigkeit« auf elf Jahre festgelegt. 1863 wurde die Altersschwelle auf 13 Jahre, und erst 1945 auf 15 Jahre anhoben.

Auch in den Siebzigern machte die Gesetzgebung keinen Unterschied zwischen homosexuellen Beziehungen zwischen - nach heutigem Maßstab - jungen Erwachsenen und Fällen von Kindesmissbrauch. Nicht zuletzt deshalb könnte man zahlreiche Petitionen zitieren, mit denen prominente Unterzeichner - Michel Foucault, Jean-Paul Sartre, Louis Aragon oder der heutige Erziehungsminister Jack Lang - sich für die Freilassung von Leuten einsetzten, die wegen »Verführung Minderjähriger« angeklagt wurden; unterschrieben Mitte der Siebziger, zu einer Zeit, »wo man angesichts der Masse von Petitionen nicht mehr so sehr darauf achtete, was man unterschrieb«, so der Schriftsteller und Mitunterzeichner Philippe Sollers.

Drei Tage nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Cohn-Bendit zirkulierte bereits eine Petition von Eltern und Kindern seines damaligen Frankfurter Kinderladens, die jeden Missbrauchs-Vorwurf gegen seine Person zurückwies. Niemand unter den damals potenziell Betroffenen hat dem bis heute widersprochen.