Leitkultur als Leitmotiv

Die Reaktionen der deutschen Wirtschaft auf den ausländerfeindlichen Vorstoß von Friedrich Merz zeigen, wie gestört das Verhältnis zwischen CDU/CSU und den Kapitalverbänden ist.

Man kann dem Kapitalismus wahrlich viel Schlechtes nachsagen: die hemmungslose Ausbeutung der Dritten Welt etwa, die Zerstörung der Natur, die Entfesselung von Kriegen usw. usf. Und doch verdankt die Menschheit ihm - gerade in seiner aktuellen neoliberalen Variante - durchaus beachtliche Fortschritte. Auch wenn er nicht allen die versprochene Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beschert hat, so hat er die Menschen doch zumindest in einer Beziehung gleich gemacht: Es ist vollkommen egal, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, Religion oder Nationalität ein Individuum hat - wichtig ist allein seine marktgerechte Verwertbarkeit. Vor dem Markt sind alle gleich. Auch das deutsche Kapital hat sich längst internationalisiert und von seinen deutschnationalen Wurzeln verabschiedet. Nur seine früheren Statthalter in den Parlamenten scheinen noch Probleme damit zu haben, dass einstmals identitätsstiftende Werte wie Stamm, Nation, Religion und Familie plötzlich nicht mehr sonderlich hoch im Kurs stehen sollen. So auch der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Friedrich Merz, der letzte Woche von einer »deutschen Leitkultur« faselte, der sich Einwanderer gefälligst unterzuordnen hätten. Genauer gesagt sprach er von einer »gewachsenen freiheitlichen deutschen Leitkultur«, die sich obendrein trefflich als Thema für den nächsten Bundestagswahlkampf eigne. Die Antwort der Wirtschaft kam prompt, und sie zeigt, wie gestört das einstmals so gute Verhältnis zwischen CDU und den deutschen Kapitalverbänden inzwischen ist. Deutschland stehe ohnehin »vor enormen Problemen, in den nächsten Jahren genügend Fachleute für viele Bereiche der Wirtschaft zu finden«, erwiderte der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, und warnte vor einem Wahlkampfthema »Einwanderung«. Ähnlich äußerte sich auch Hans Peter Stihl vom Deutschen Industrie- und Handelstag, der die rot-grüne Bundesregierung für ihre Ausländerpolitik lobte und gleichzeitig die Union abwatschte. Die Greencard-Initiative sei »ein deutlicher Fortschritt gegenüber der starren Einwanderungspolitik vergangener Jahre«. Deutliche Kritik kam auch vom neuen Sprachrohr der deutschen Wirtschaft: »Die CDU sollte sich ein anderes Thema suchen, denn mit ihrer Taktik schadet sie sich selbst und dem Standort Deutschland«, konstatierte die Financial Times Deutschland. »CDU und CSU sind auf dem Weg, das 21. Jahrhundert mit dem 19. Jahrhundert zu verwechseln.« Angesichts solcher Reaktionen bemüht man sich in der Union seit letzter Woche um Schadensbegrenzung. Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe meldete sich als einer der ersten zu Wort: »Wir werden von der Wirtschaft nicht ernst genommen, wenn wir bestreiten, dass wir auch die Zuwanderung von Tüchtigen und Integrationswilligen brauchen«, diktierte der Fraktionsvize seinem Chef Friedrich Merz ins Stammbuch. Deutschland brauche mehr Zuwanderung, »selbst wenn es uns nicht gelingt, zugleich dafür zu sorgen, dass wir weniger Asylbewerber bekommen«. Erst als Parteichefin Angela Merkel erklärte, dass es zu früh sei, über die Themen von 2002 zu diskutieren, ruderte Merz zurück. »Mir geht es darum, dass wir eine Debatte führen über ein vernünftiges Einwanderungs- und Integrationskonzept«, erklärte er am Wochenende im Tagesspiegel. »Deutschland braucht Einwanderung. Darüber sind sich mittlerweile alle einig.« Doch alle Dementis können nicht über das grundsätzliche Dilemma der CDU hinwegtäuschen, außer der Ausländerpolitik kein kampagnentaugliches Thema besetzen zu können. Darauf deutet auch der überraschende Rücktritt von Generalsekretär Ruprecht Polenz am Montag hin. Polenz galt seit seiner Wahl im April als Mann Merkels. Doch dass sein designierter Nachfolger, der stellvertretende nordrhein-westfälische Landtagspräsident Laurenz Meyer, eine vielversprechende Strategie im Aktenköfferchen mitbringt, ist kaum zu erwarten. Denn es bleibt die Frage: Wie, wenn nicht mit rechten Stammtischparolen, wird die CDU im Jahr 2002 die Bundestagswahl gewinnen? Auf die Unterstützung des Kapitals, das noch in den siebziger und achtziger Jahren mit großzügigen Parteispenden seinen Teil dazu beitrug, die sozialliberale Koalition in Bonn zu beenden, kann sich die Union nicht mehr verlassen. Die deutsche Wirtschaft hat Rot-Grün längst lieb gewonnen - was nicht verwundert angesichts einer unternehmerfreundlichen Politik, die der Kohlschen in nichts nachsteht. Einer Umfrage des Handelsblattes zufolge glauben inzwischen vier Fünftel der deutschen Manager, dass Schröder auch nach der Bundestagswahl im Amt bleiben wird. Wie das verhindert werden kann, darüber herrscht in der Union derzeit Ratlosigkeit. Denn Schröder ist für sie einfach nicht zu greifen. Jedesmal wenn die Opposition glaubt, endlich einen Angriffspunkt gefunden zu haben - sei es bei der Rente oder der Steuer -, korrigiert der Kanzler flugs seine einschlägigen Konzepte und macht damit sämtliche CDU-Hoffnungen auf Meinungsführerschaft in der politischen Debatte zunichte. Sollte sich Schröder keinen allzu schlimmen Fauxpas mehr erlauben, dann bleibt der Union eigentlich nur noch der Marsch nach rechts. Dort ist zweifelsohne ein beachtliches Wählerpotenzial anzutreffen. Seit Jahrzehnten konstatieren die Demoskopen, 15 bis 20 Prozent der deutschen Bürger pflegten ein rechtsextremes Weltbild. Es dürfte allerdings nicht einfach werden, dieses Potenzial auch für die CDU zu mobilisieren. Sieht man von der Hessen-Wahl 1999 einmal ab, als die CDU mit ihrer Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft eine knappe Stimmenmehrheit errang, haben sich Wahlkämpfe mit ausländerfeindlichen Parolen für die CDU bislang kaum gelohnt. Im Gegenteil, meist waren es am Ende Republikaner, DVU oder NPD, die von der Hetze profitierten. Dass man mit rechten Ausfällen nicht unbedingt Wahlen gewinnt, musste zuletzt Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen erleben, als er dort mit seiner »Kinder-statt-Inder«-Kampagne durchfiel. Deswegen mahnen selbst ausgewiesene Scharfmacher zur Vorsicht. So auch Rühe, der noch Ende der achtziger Jahre als CDU-Generalsekretär die Asyldebatte begann und später Muster-Presseerklärungen an alle CDU-Kreisverbände sandte und diese aufforderte, mit der Hetze gegen Asylbewerber Stimmung für die CDU zu machen. Zugleich ist der Einfluss der Deutschnationalen innerhalb der Partei deutlich zurückgegangen. Das Anfang der neunziger Jahre gegründete christlich-konservative Deutschland-Forum etwa, das mit Parolen wie »soziale Leistungen nur für Deutsche« angetreten war, die deutsche Kultur gegen den »kulturrevolutionären Machtverbund« zu verteidigen, ist praktisch in der Versenkung verschwunden. Von rechtskonservativen Leitfiguren wie Heinrich Lummer ist kaum noch etwas zu hören. Und der ehemalige Rädelsführer der Stahlhelm-Fraktion, Manfred Kanther, tritt nur noch vor dem Spenden-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages auf. Allerdings hat Kanther einen würdigen Nachfolger gefunden: Roland Koch hat von ihm nicht nur gelernt, wie man mit Geld umgeht, sondern auch, wie man mit rechten Sprüchen Wählerstimmen sammelt. Und trotz seiner offensichtlichen Verwicklung in die Spendenaffäre der hessischen CDU ist Koch einer der wenigen Hoffnungsträger der Union. Abgesehen von Edmund Stoiber, hat kaum jemand so gute Aussichten, Kanzlerkandidat zu werden. Beide dürften im Bundeswahlkampf nicht ohne rassistische Parolen auskommen. Kein Wunder also, dass sich Merkel vorerst noch alle Optionen erhalten will: Das Thema Zuwanderung dürfe nicht zum Tabu erklärt werden, betont die Parteivorsitzende. Fragen jedoch, die die Menschen bewegten, müssten im Wahlkampf schon eine Rolle spielen. Und zugleich muss sich die CDU Gedanken darüber machen, wie sie die immer größer werdende Gruppe von deutschen Staatsbürgern nichtdeutscher Herkunft für sich gewinnen kann - ein Problem, das auch andere konservative Parteien haben, etwa die US-amerikanischen Republikaner, die sich inzwischen verstärkt um die lateinamerikanischen Einwanderer bemühen. CDU-Generalsekretär Polenz forderte vergangene Woche denn auch die Gründung einer Plattform für Migranten in der CDU. Welchen ausländerpolitischen Kurs die Union in Zukunft einschlagen will, wird sich vermutlich erst Mitte 2001 entscheiden. Dann will die CDU-Einwanderungskommission ihren Bericht vorlegen. Bis dahin gilt, was Jürgen Rüttgers vergangene Woche resignierend feststellte: »Ich weiß im Moment nicht, was die CDU für eine Ausländerpolitik vertritt.« Zum Glück weiß wenigstens noch die Industrie, was sie will. So warnte IBM-Vorstandschef Erwin Staudt die Union davor, die »Einwanderung zu instrumentalisieren«. Das Thema schade dem Standort Deutschland.