Zehn Jahre deutsche Einheit

Widerstand war Identität

Nicht an der Wiedervereinigung ist die Linke gescheitert, sondern an ihrer Wahrnehmung.

Widerstand war zwecklos« behauptet Stefan Wirner (Jungle World, 40/00) und skizziert in seinem Beitrag die deutsche Geschichte seit der Wiedervereinigung als eine des Niedergangs: von sozialen Standards, von Formen des menschlichen Umgangs, von zivilisatorischen Errungenschaften: »Die Konkurrenz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitslosen, zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen, zwischen Frauen und Männern - die Konkurrenz aller gegen alle wurde verschärft.« Und das Schlimmste an dieser Entwicklung: »Der radikalen Linken gelang es nicht, gegen diese Entwicklung nennenswerten Widerstand zu entwickeln.«

An dieser Beschreibung des Faktischen, an der zunächst nicht viel auszusetzen ist, stört vor allem eins: dass sie das Datum der Deutschen Einheit absolut setzt und als Bruch begreift, nach dem alles nur scheitern konnte. Was aber, wenn der 3. Oktober für die Linke kein Menetekel war, sondern ein Katalysator? Wenn die deutsche Einheit das zur Kenntlichkeit brachte, was sich in der westdeutschen Linken seit Jahren abzeichnete?

Nehmen wir doch mal die DKP, die von ihren Statuten her DDR-freundlichste Gruppierung der Linken. Sie hatte vor dem Zusammenbruch mehrere Zehntausend Mitglieder und einige gut organisierte Vorfeldorganisationen. Sie verfügte über zahlreiche Publikationen, darunter eine Tageszeitung, und leistete sich einen renommierten Verlag, eine Druckerei und ein wissenschaftliches Institut. Obwohl sie wegen des ebenso stabilen wie hysterischen Antikommunismus in der BRD stigmatisiert war, zog sie in diverse Kommunalparlamente ein und übte einen gewissen, hin und wieder sogar hegemonialen Einfluss aus: in der Friedensbewegung, in den Asten und in diversen Betriebsräten. Insgesamt war es eine gute Infrastruktur, keine 15 Jahre ist das her.

Die Stärke der Partei lag darin, auf zivilgesellschaftlicher Ebene konkrete Politik zu betreiben: man kämpfte um Kindergartenplätze, gegen überhöhte Müllabgaben, machte ein bisschen Antifa und erwies sich im Personalrat als besonders kompetent. So mancher Funktionär mag sich mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit seiner Partei gegenüber den Genossen im Osten gewünscht haben - und wusste, dass das schon deshalb illusorisch war, weil die SED den Laden finanzierte.

Der Zusammenbruch der DDR brachte auch den Zusammenbruch dieser Form von proletarischer Solidarität, die DKP-Struktur wurde gründlich eingedampft. Allein daraus aber den Verfall der Partei abzuleiten, wäre verfehlt. Denn erstens führte die DKP viele ihrer Auseinandersetzungen auf einem Level unterhalb der Systemauseinandersetzung, der Kampf um mehr Kindergartenplätze wird nicht nach den Maßstäben der Weltrevolution rezipiert. Und zweitens brachte der Zusammenbruch doch die ersehnte Unabhängigkeit.

So erschien im Januar 1990 in konkret ein gut gelaunter Einwurf Michael Scharangs: »Die Linke in aller Welt, zerstritten bis zur Atomisierung, doch nicht an Problemen des jeweils eigenen Landes, sondern an solchen, die sie direkt gar nichts angingen - an Trotzki, Stalin, Mao, Ungarn, Prag -, diese Linke sieht sich unversehens geeint, da der alles verzehrende Westen auch ihren Zankapfel geschluckt hat - wären wir im Märchen, wäre er vergiftet. (...) Die Linke, der alten Zentren beraubt und ledig, merkt, dass sie erwachsen genug ist, um selbständig ihren Weg zu gehen.«

Dass die Linke 1990 erst mal perplex und demoralisiert war, ist nur allzu verständlich und dass antideutsche Demos am Tag der Einheit, so wie sie Stefan Wirner am Beispiel Berlins beschreibt, nichts anderes als ein Flop sein konnten, ist nicht symbolisch, sondern liegt in der Natur der Sache. Das wäre nicht weiter dramatisch gewesen. Dramatisch ist, dass etwa der Sozialabbau und viel mehr noch: die rechte Dominanz in Teilen des Alttaglebens auf so wenig Gegenwehr von Seiten der Linken gestoßen ist.

Die Frage ist doch: Warum kam die Linke nicht mehr auf die Beine? Wo blieben sie denn, die Tausenden in Internationalismus, Solidarität und Kritik der politischen Ökonomie geschulten DKP-Kader? Dieselbe Frage lässt sich auch für die zahlreichen Aktivisten der autonomen Bewegung der achtziger Jahre stellen. Warum wurde all das, was im Alltagsleben und im Stadtbild (besetzte Häuser, alternative Viertel etc.) von Linken geprägt war, erst abgebaut und schließlich einkassiert?

Weil von linker Begrifflichkeit und linkem Habitus schon vor der Einheit nur Hülsen übrig waren. Es lohnt in diesem Zusammenhang, sich die Theoriedebatten der siebziger Jahre zu vergegenwärtigen. Die 1968 fest eingeplante Revolution war ausgeblieben, eine linke Bewegung gab es trotzdem. Und eine linke Bewegung sucht nicht stumpf nach Betätigung, sondern vor allem nach einem Handlung definierenden Rahmen, nach positiver Bestimmung und Ableitung linker Politik aus objektiven gesellschaftlichen Gründen. Das läuft auf Revolutionstheorie hinaus, und um die ist es schlecht bestellt. Der Linken gelang es partout nicht, eine sich selbst begründende, autonome, also nicht auf Anthropologismen und Ontologie rekurrierende Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die einen verbindlichen Rahmen zur Überwindung des Kapitalismus beschrieb.

Am eindringlichsten dürfte wohl Jürgen Habermas gescheitert sein. In seiner Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann gelang es ihm 1971 nicht, seinen auf Diskursanalyse (»Argumentationen als das geeignete Verfahren für die Lösung moralisch-praktischer Fragen«) und einem System/Lebenswelt-Dualismus basierenden Emanzipationsbegriff gegen Luhmanns autonome, aber eben nicht emanzipatorische Theorie durchzusetzen. (Das Beispiel Habermas ist nicht willkürlich gewählt, schließlich wurde er 1971 immer noch als legitimer Nachfolger Adornos angesehen und avancierte erst später zum Stichwortgeber von Rot-Grün).

Eine autonome linke, oder präziser: marxistische Theorie war nur in der Nachfolge der Negativen Dialektik Adornos und in der Kritik aller Revolutionstheorie zu haben. Einen positiven Bezug auf Politik konnte man als Linker in nicht-revolutionären Zeiten nur in der Form der Identifikation gewinnen. Identität, noch vor dreißig Jahren ein ausschließlich philosophisch gebrauchter Begriff, wurde zum Zauberwort und löste die Revolutionstheorie ab.

Man durchkämmte den Alltag und die große, weite Welt nach Momenten des Widerstandes und der Revolte und behandelte diese eben nicht als das, was sie waren, als spontane, ephemere Ereignisse, sondern leitete daraus Selbstbewusstsein, Sinn, Verbindlichkeit, kurzum: Identität ab. Welche wahnhaften, fetischistischen, antisemitischen Züge das schon in den frühen achtziger Jahren annahm, kann man in den Polemiken Wolfgang Pohrts und Eike Geisels nachlesen.

Dabei gilt die Regel: Je mehr die linken Begriffe durch Identitätspolitik zusammengehalten und aufeinander bezogen werden, desto rasanter schwindet ihr kritischer, sozialistischer Gehalt. Wer sich seine linke Identität vor 20 Jahren aus Nicaragua-Solidarität, Uni-Politik, Umweltschutz und Bürgerinitiativen zimmerte, hatte das Problem, den gemeinsamen sozialistischen Nenner, das in allen Kämpfen identisch aufschimmernde weltrevolutionäre Element, zu bestimmen - und das gab es nicht.

Dass linke Strukturen nicht schon 1988 zusammengekracht sind, lag daran, dass Deutschland als positives Bezugsfeld nicht gegeben war. Man wurstelte halt vor sich hin und hielt nach exotischen Befreiungsbewegungen Ausschau. Das änderte sich erst mit der Wiedervereinigung - der als friedliche Revolution deklarierten Restauration. Deutschland, das geteilte, besetzte, bestrafte, also doch irgendwie schuldige Land, zog sich selbst aus dem Sumpf. Kann es für grün und rosarot gewordene Altkader etwas Schöneres geben?

Die einen gestalten munter mit, der Rest identifiziert zunehmend verblödend vor sich hin - es soll sogar Linke geben, die im Milosevic-Regime Elemente des Selbstverwaltungssozialismus entdeckt haben. Stefan Wirners Conclusio, »Widerstand war zwecklos«, ist insofern falsch, weil gar keiner geleistet wurde. Die große antideutsche Demo in Frankfurt vor zehn Jahren mit ihren 10 000 Teilnehmern muss als Reflex und Überbleibsel der alten BRD-Zeit interpretiert werden.

Der Niedergang der (west-)deutschen Linken seit 1990 ist in Wirklichkeit einer seit 1968, vielleicht noch nicht mal das: er ist ein Zu-sich-selbst-Kommen. Versöhnt mit der Geschichte, mit der Nation und mit den Opfern, feiert die linke Identitätspolitik ihren letzten Triumph. Sie wird mit sich selbst identisch und so zur Staatsdoktrin.

Was bleibt, ist mal wieder das Geschäft der Kritik. Wenn es einen Optimismus zu verteidigen gibt, dann den von Michael Scharang. Dass seine Analyse als Prognose falsch ist, ändert nichts an ihrem wahren Gehalt als Postulat. Was empfahl er damals der Linken? »Ein bisschen Intelligenz, ein bisschen Charakter, mehr braucht sie vorderhand gar nicht.«