Sydney 2000, Teil IV, Ringen

Der Bär aus Sibirien

»Um ihn zu schlagen, muss man schon einen Gorilla nehmen und ihm die richtige Technik beibringen. Denn er ist so stark wie King Kong«, resignierte der US-amerikanische Ringer Matt Ghaffari, nachdem er bei den Olympischen Spielen von Atlanta im Schwergewichts-Finale gegen den Russen Alexander Karelin verloren hatte. Zum 22. Mal war es damals Ghaffari nicht gelungen, seinen Kontrahenten, allgemein als »Bär aus Sibirien« bekannt, auf die Matte zu legen.

Karelin dagegen war trotz des Titelgewinns nicht zum Feiern zumute. »Ich schäme mich, dass ich zweimal nur so knapp gewonnen habe«, sagte er, obwohl er vor dem Turnier drei Monate lang wegen einer schweren Verletzung nicht trainieren konnte. Denn der Mann, der seit 1988 unbesiegt ist, versteht seinen Sport nicht als plumpes Kräftemessen, sondern als ästhetische Inszenierung. Weil der 1,97 Meter große Alexander Karelin so stark und trotzdem sehr leichtfüßig ist - sein Körper besteht trotz seines enormen Gewichts von 130 Kilogramm nur aus Muskeln -, beherrscht er filigrane Techniken, die normalerweise nur die leichtgewichtigen Ringer benutzen können. In einer früheren Begegnung hatte er Ghaffari, immerhin ebenfalls 130 Kilo schwer, mit beiden Händen in die Höhe gestemmt und den Richter aufgefordert, den ungleichen Kampf abzubrechen. Ein Spitzen-Turnier in Ungarn gewann er glatt, obwohl er verletzungsbedingt seinen rechten Arm nicht gebrauchen konnte.

Auch wenn Ghaffari seither gern verbreitet, Karelin verfüge über ein »unmenschliches Äußeres«, und die New York Times ihn zum »gemeinsten Mann der Welt« erklärte, ist Karelin auch außerhalb Russlands zum beliebtesten Ringer geworden. Weniger wegen seines eigenwilligen Trainingsprogramms, zu dem fünfstündige Ruderausflüge ebenso gehören wie Läufe mit Baumstämmen auf den Schultern durch die knietief verschneiten sibirischen Wälder. Dass das Schwergewicht im Privatleben ein äußerst sanftmütiger und gebildeter Mensch ist, zieht das Publikum an. In Interviews kann Karelin ebenso fundiert die Klassiker der Weltliteratur analysieren wie Schulterwürfe und Kampftaktiken. Manchmal zitiert er Gedichte, schwärmt von Operninszenierungen oder spricht über seine Lieblingskomponisten Bach und Chopin.

Nun könnte der Steuerinspektor Karelin, immerhin bereits 33 Jahre alt, sich eigentlich aus dem Sport zurückziehen und seinen weltweiten Ruhm genießen. Ein gut dotiertes Angebot des renommierten US-Football-Teams Dallas Cowboys liegt bereits seit Jahren vor, aber der Ringer will einfach nicht aufhören. Dreimal war er Olympiasieger, neun WM- und elf EM-Titel hat er, nun soll in Sydney die vierte Goldmedaille folgen. »Bevor ich kämpfe, sehe ich die Angst in den Augen meiner Gegner«, bedauert Karelin, dass die meisten Kämpfe für ihn so einfach zu gewinnen sind. Auch bei diesen Olympischen Spielen wird sich kaum jemand finden, der den einzigen unbesiegten Ringer der Welt auf die Matte schickt.

Der Konkurrenz bleibt daher nur zu hoffen, dass Karelin endlich beschließt, nunmehr genug Rekorde gesammelt zu haben, und endgültig abtritt. Vielleicht hat sie damit jedoch Pech. Es gibt nämlich einen Rekord, der bisher ungebrochen ist. Im 6. Jahrhundert v. u. Z. war es dem griechischen Ringer Milon von Kroton gelungen, bei fünf Olympischen Spielen in Folge die Goldmedaille zu gewinnen.