Vor dem Krieg ist nach dem Krieg

Ihre proklamierten Ziele hat die Nato mit der Bombardierung Jugoslawiens nicht erreicht. Dafür kann das Bündnis weiterhin im eigenen Auftrag kämpfen. Und die Deutschen dürfen weltweit mit dabei sein.

Die Bilanz des Krieges der Nato gegen Jugoslawien fällt ein Jahr nach seinem Ende ungünstig aus. Seine moralische Begründung erscheint fragwürdiger denn je. Keines seiner erklärten Ziele hat er erreicht: die »humanitäre Katastrophe« im Kosovo wurde nicht verhindert; Slobodan Milosevic und die jugoslawische Armee überstanden den Krieg nahezu unbeschädigt; ein multi-ethnisches Kosovo innerhalb des jugoslawischen Staatsverbandes wird es nie wieder geben. Stattdessen erreichte die UCK ihr Ziel eines albanischen Kosovo, und sie wird, wenn auch vorerst unter Uno-Protektorat, weiter an der Errichtung eines großalbanischen Staates arbeiten.

Zwei weitere Ziele aber, die niemand öffentlich formuliert hatte, wurden erreicht: In einer neuen Weltordnung jenseits des Völkerrechts erteilt das stärkste Militärbündnis sich selbst den Auftrag zum Krieg, und eine neue deutsche Normalität ermächtigt die Bundeswehr, überall in der Welt Krieg zu führen.

Ihre Normalität allerdings musste den Deutschen behutsam beigebracht werden. »Heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Wir führen keinen Krieg«, beteuerte Bundeskanzler Gerhard Schröder am Abend des Kriegsbeginns, »aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Die Militäraktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk.« Sondern nur gegen den serbischen Diktator Milosevic, und sie werde allenfalls ein paar Tage dauern.

Die Kosovo-Albaner hielten die Nato für ihre Luftwaffe und die UCK für die Bodentruppe der Nato. Dass der Angriff den Zorn der Serben steigerte, habe man nicht vorhersehen können, versicherten die Strategen nach Beginn der Angriffe am 24. März, ebensowenig, dass die »humanitäre Katastrophe«, die man hatte verhindern wollen, nun mit um so größerer Wucht eintrat. Die massenhafte Vertreibung albanischer Zivilisten, die vom Luftkrieg der Nato ausgelöst worden war, diente nun zu dessen Begründung. Und ihre Überzeugungskraft wuchs mit der Zahl der Opfer serbischen Vernichtungswillens. So ging die US-Regierung am 19. April davon aus, dass »bis zu 100 000 Kosovo-Albaner von Serben getötet wurden«. Ihr Gesandter David Scheffler bezog sich dabei auf »Berichte von Flüchtlingen. Demnach wurden vor allem Männer im wehrfähigen Alter von ihren Familien getrennt, bevor die Frauen und Kinder vertrieben wurden.«

Zwei Tage später schrillten im US-Außenministerium erneut die Alarmglocken: Wie aus Berechnungen in den Flüchtlingslagern hervorgehe, sei der Verbleib von 100 000 bis 500 000 männlichen Kosovo-Albanern ungeklärt, berichtete das State Department. Man sei auf das Schlimmste gefasst, verlautete es aus Washington und London - und verwies auf Srebrenica, wo während des Bosnienkrieges Tausende Moslems hingerichtet worden seien.

Doch weil eine halbe Million Ermordeter noch immer zu wenig war, erhöhte der zuständige deutsche Staatssekretär die Zahl der potenziellen Opfer auf das Dreifache. Die allerdings bloß deshalb nicht wirklich tot waren, weil die Nato sie gerettet hatte: »Also, die Menschen, die geflohen sind, haben ein schweres Schicksal, aber sie haben fliehen können. Sie wären umgebracht worden. Das ist keine erfundene Behauptung, sondern das weiß man aus dem Geschehen, das weiß man aus den vorgefundenen Plänen.« Heute glaubt an den vorgefundenen »Hufeisenplan« nicht einmal mehr die Zeit: »Der Argwohn, dass es sich dabei um eine bulgarische Fälschung handele, hat sich inzwischen zur Gewissheit verdichtet.«

Erst wenn der Krieg vorüber sei und man die Orte des Schreckens inspizieren könne, fürchtete Madeleine Albright am 12. Mai letzten Jahres, »wird man das ganze Ausmaß des Bösen erkennen, das in Kosovo entfesselt worden ist« - womit sie sagen wollte, dass es unvorstellbar groß sein werde. Seit dem 11. November lässt es sich zwar nur vorläufig, dafür aber mit Fug beziffern: »Ermittler finden im Kosovo weniger Tote als erwartet«, lauteten die Schlagzeilen der Nachrichtenagenturen - nach der Untersuchung eines Drittels aller bisher entdeckten Massengräber kamen die Experten auf 2 108 Tote. Carla Del Ponte, die Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals, musste einräumen, dass »Zeugenberichte eine weit höhere Zahl von Leichen hatten vermuten lassen. An den 195 Grabstätten, die untersucht worden seien, hätten den Berichten zufolge 4 266 Tote gefunden werden müssen. Doch hätten die Gerichtsmediziner genügend Beweismittel finden können, um festzustellen, dass sich die Zeugen bei ihren Zahlenangaben nicht unbedingt geirrt hätten.«

Die Ergebnisse der »Militäraktion«, die sich nicht gegen das serbische Volk richtete, bilanzierte am 3. Juni 1999 die Berliner Morgenpost: »Jugoslawien ist in weiten Teilen zerstört. Die seit zehn Wochen andauernden Nato-Luftangriffe auf Serbien haben einen Sachschaden von rund 120 Milliarden US-Dollar verursacht. Jugoslawien bietet heute in weiten Teilen ein Bild der Zerstörung, wie es die Bevölkerung vor Beginn der Nato-Angriffe am 24. März nicht für möglich gehalten hätte. Über die Verluste in der jugoslawischen Bundesarmee gibt es keine offiziellen Angaben. Die Regierung in Belgrad rückt die Zahl der Zivilisten in den Vordergrund, die von Nato-Bomben getroffen wurden. Es sollen 2 000 Tote und 6 000 Verletzte sein, was im einzelnen unter den Kriegsbedingungen von niemandem überprüft werden kann. Was niemand bezweifelt, sind die Zerstörungen an der Infrastruktur, die das Leben der 10,5 Millionen Einwohner Jugoslawiens beeinträchtigen.«

Ebenso wie die Zahl der Opfer serbischen Terrors musste auch die militärische Erfolgsbilanz der Nato immer wieder revidiert werden. Man werde Slobodan Milosevic entwaffnen, versprach Rudolf Scharping am 11. April 1999: »Wir haben diese Militär- und Mordmaschine inzwischen deutlich eingeschränkt.« Einen Monat später meldete sein amerikanischer Kollege William Cohen weitere Anzeichen für die Schwächung der jugoslawischen Streitkräfte: Selbst die Armee-Kommandeure zweifelten neuerdings an der eigenen Strategie und schickten ihre Familien vorsichtshalber ins Ausland. Am 25. Juni, nachdem die jugoslawischen Truppen das Kosovo verlassen hatten, mochte Kenneth Bacon, ein Sprecher des Pentagon, zwar »keine Erbsenzählerei betreiben«, dennoch wage er die Schätzung, »wir haben etwa 700 Panzer zerstört«. Auf jeden Fall aber gelte, »dass wir genug Ziele getroffen haben, um zu siegen«.

Tags darauf hatte der Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark noch immer keine Erbsen gezählt, aus 700 zerstörten Panzern aber waren inzwischen 110 geworden. »Auswertungen durch Aufklärungsexperten« nämlich hatten ergeben, dass die Nato während der 78 Tage andauernden Luftangriffe Treffer an 110 Panzern, 220 gepanzerten Kampffahrzeugen und 450 Artilleriegeschützen und Granatwerfern erzielt habe. Diese Bilanz lasse sich anhand zahlreicher Videoaufzeichnungen der Kampfpiloten belegen. »Die wirkliche Frage« aber sei »die nach der Bedeutung der Verluste. Und sie waren so bedeutsam, dass sie Milosevic gezwungen haben, sich den Nato-Forderungen zu beugen«, analysierte Clark.

Für fast ein Jahr nun galt der Krieg der Nato gegen Jugoslawien als erfolgreichster Luftkrieg aller Zeiten. Der Historiker John Keegan nannte ihn einen »Wendepunkt in der Militärgeschichte«, habe er doch bewiesen, dass eine schlagkräftige Luftwaffe ganz allein einen Krieg gewinnen könne. Am 15. Mai dieses Jahres allerdings veröffentlichte Newsweek einen geheimen Bericht der US Air Force, demzufolge die Bomben der Nato lediglich zahlreiche Äcker umgepflügt und einige Hundert Autos, Lastwagen und Panzerattrappen zerstört hätten. »Die Luftschläge gegen das serbische Militär im Kosovo blieben in den meisten Fällen wirkungslos.« Nicht 700 oder 112, sondern 14 Panzer seien zerstört worden, nicht 220 gepanzerte Kampffahrzeuge, sondern 18, nicht 450 Artilleriegeschütze, sondern 20. Wenn man Scharping heute nach der militärischen Effektivität des zweimonatigen Bombardements fragt, so gibt er zu bedenken, irgend etwas müsse doch Milosevic bewogen haben, das Kosovo preiszugeben. Newsweek wusste, was es war: »The lesson of Kosovo is that civilian bombing works.«

In Jugoslawien wurde der Zweite Weltkrieg noch einmal geführt, und Deutschland stand endlich auf der richtigen Seite. Dazu brauchte es einen weiteren Hitler und eine entsprechende Anzahl potenzieller oder wirklicher Opfer. Slobodan Milosevic hatte bereits vor Jahren in Kroatien und Bosnien einen »Vernichtungskrieg« geführt, nun führte er im Kosovo einen »Vernichtungsfeldzug« (FAZ). Einen »Völkermord« beging er sowieso, und er musste zweifellos auch über ein Reichssicherheitshauptamt und einen Eichmann verfügen, sonst hätte Bundeskanzler Schröder die Vertreibung der Albaner nicht »planmäßig vorbereitete Deportationen« genannt. Für die unvermeidlichen KZ sorgte der Minister Scharping: »Die Männer werden selektiert, ich verwende das Wort bewusst«, und in »Internierungs- und Konzentrationslager« gesteckt. Zusätzlich wurden »ganze Täler abgesperrt, um dort Menschen festzuhalten und sie verhungern zu lassen«. Was die Zahl der Opfer serbischer Vernichtungswut betraf, zeigte Scharping sich großzügig. Von Augenzeugen und aus geheimdienstlichen Quellen meinte er zu wissen, dass »Tausende und Abertausende Menschen abgeschlachtet« bzw. »im Kosovo Zigtausende Menschen hingemordet« wurden. Ferner ging aufs serbische Konto eine »millionenfache Vertreibung, muss man ja fast schon sagen«.

Weil die Luftaufklärung der Nato die Existenz serbischer KZ partout nicht dokumentieren konnte, druckte Bild kurzerhand ein Foto albanischer Flüchtlinge, um es mit der Überschrift zu versehen: »Sie treiben sie ins KZ« - obwohl jeder wusste, dass die abgebildeten Menschen in kein Konzentrationslager gingen, sondern nach Mazedonien.

Wenn Milosevic ein anderer Hitler war, dann stand nicht weniger bevor als ein weiteres Auschwitz. Hans Koschnick sprach es aus: »Soll Auschwitz sich wiederholen? Wir können nicht akzeptieren, dass so etwas wiederkommt, was wir mit Auschwitz bezeichnen.« Da aber im Kosovo nichts geschah noch geschehen war, was mit Auschwitz im Entferntesten zu tun gehabt hätte, musste Vertreibung für Völkermord gelten. Und weil nun alles eins war, hatten auch jene Leser der FAZ Recht, die behaupteten, »ethnische Säuberungen« seien bereits am Ende des Zweiten Weltkriegs durchgeführt und auf der Potsdamer Konferenz sanktioniert worden. Dann wurde 1945 ein Völkermord an Deutschen begangen.

Nun könnte man das alles für gewöhnliche Kriegspropaganda halten, die aus jedem Feind den denkbar übelsten Unmenschen macht, oder für gewöhnliche Kriegswirren, die keinen Geist unbeschädigt lassen, hätte nicht der Außenminister Joseph Fischer in einem ZDF-Interview nachdrücklich auf den historischen Sinn des ideologischen Unternehmens hingewiesen. »Ich bin ein Kind von Heimatvertriebenen«, begründete er sein Mitgefühl für die vertriebenen Kosovaren. Wenn aber diese nicht zurückkehren dürften, würden unvermeidlich »die jungen Generationen das Schicksal der Palästinenser teilen und den palästinensischen Weg gehen«. Die Deutschen seien durchaus bereit, eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen für eine begrenzte Zeit zu ertragen, denn »die Bundesrepublik hat eine großartige Solidaritätsgeschichte. Dieses Land hier hat seit 1944 Millionen von Flüchtlingen aufgenommen«. Zwar hatte es auch einen deutschen Milosevic gegeben, hieß das in der Logik jener Tage, aber erstens waren die Deutschen selbst einem Völkermord zum Opfer gefallen, zweitens hatten sie Millionen vorm Völkermord gerettet, und drittens retteten sie nun wieder Hunderttausende.

Im »Schlachthaus Kosovo« tobte nichts anderes als »der verbrecherische Nationalismus, den wir ja auch aus unserer Geschichte kennen«, mit einer »Brutalität, die meine Generation nur aus den Geschichtsbüchern, aus der Zeit des Nationalsozialismus kennt«. Und die »serbische Sonderpolizei, gewissermaßen die SS von Herrn Milosevic«, beging »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Angesichts eines »barbarischen Faschismus« mussten die Kosovaren glauben, »sie seien plötzlich im Film 'Schindlers Liste' aufgewacht im Jahre 1999«. Auf die Frage, ob ihnen eine Heimkehr überhaupt zuzumuten sei, antwortete Fischer: »Hätten Sie sich vorstellen können, dass Juden in Deutschland jemals wieder leben, dass wir blühende jüdische Gemeinden haben?«

Der Bayerische Rundfunk präsentierte erstmals eine arische Überlebende des Holocaust: eine Funktionärin der schlesischen Landsmannschaft, die in einer Fernsehdiskussion zum Kosovo-Krieg ausführlich davon erzählen durfte, wie die Polen und die Russen das deutsche Volk gemordet hatten. Am Ende wurde auch die Wehrmacht Hitlers von ihrer Nachfolgerin glänzend rehabilitiert. Der ehemalige Generalinspekteur Klaus Naumann schlug die Einführung eines Tapferkeitsordens vor, und dachte dabei ans »Eiserne Kreuz« und dessen »gute Tradition« seit den Befreiungskriegen, die offenbar auch im Zweiten Weltkrieg nicht beschädigt worden war. Als deutsche Soldaten schließlich in Prizren einrückten, machte der Schriftsteller Walter Kempowski sich Gedanken: »So weit wird es wohl nicht kommen, dass Herr Reemtsma mit einem Team von Fotografen hier Material für neue Ausstellungen in aller Welt zu ernten sucht.« Und was wollte der Dichter uns damit sagen? Dass die Wehrmacht auch nicht schlimmer war als die jugoslawische Armee? Oder dass ihre Verbrechen gesühnt wurden durch den humanitären Einsatz der Bundeswehr, die soeben ein zweites Auschwitz verhindert hatte? Wahrscheinlich beides.