Identität und Zuschreibung

Solidarität gegen rassistische Ausgrenzung ist etwas anderes als Unterstützung für die Konstruktion eines kurdischen Volkes.

Ein Jahr ist es am 15. Februar her, dass der türkische Geheimdienst MIT den Vorsitzenden der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, aus Kenia in die Türkei entführte. Die Festnahme der »Sonne Kurdistans«, wie ihn seine AnhängerInnen ehrfurchtsvoll nennen, löste tagelange verzweifelte Proteste aus. Auch unter MigrantInnen und Flüchtlingen aus der Türkei, die in der BRD leben.

Die Repression der BRD gegenüber der PKK hat in hohem Maße zu einer Kurdisierung beigetragen: Die meisten - über 100 - politischen Gefangenen in der BRD kommen aus der militanten kurdischen Bewegung. Tausende von Verfahren wegen Unterstützung der PKK sind anhängig.

Seit Innenminister Manfred Kanther 1993 die PKK verbot und 35 kurdische Vereine schließen ließ, wurde das Feindbild »die Kurden« medial aufgebaut. Die PKK mit ihrem Personenkult und ihrer ausgeprägten Neigung zu Märtyrer-Aktionen bis hin zu Selbstverbrennungen bot den bürgerlichen Medien die Gelegenheit, aus den bewährten Feindbildern »kommunistische Unterwanderung« und »kriminelle Südländer« das Bild von »den Kurden« zu mixen. Die vermeintlich kriminelle PKK und das Label Kurde werden gleichgesetzt. Dementsprechend wird die PKK unter der Rubrik »Organisierte Kriminalität« abgehandelt: Jeder PKKler ein potenzieller Schutzgeld-Erpresser, jede PKK-Gebietsleitung ein kurdischer Clan, verdächtig, eine Heroin-Im- & Exportfirma zu betreiben.

Der bisherige Höhepunkt der ethnisierenden Hetze gegen angeblichen »Kurdenterror« war die Medienkampagne nach den Aktionen zu Öcalans Entführung in die Türkei. Parallel veranstaltete der Staat eine enorme Repression: Kanthers Nachfolger Otto Schily verkündete am 21. Februar letzten Jahres die Festnahme von über 2 100 TeilnehmerInnen der Aktionen für Öcalan - innerhalb von vier Tagen! Der bei den Protesten verursachte Sachschaden, der weit unter den Rekordmarken autonomer Riots der achtziger Jahre lag, wurde von großen Teilen der Dominanzgesellschaft als Bedrohung ihrer deutschen Beschaulichkeit empfunden.

Die Zuschreibung PKK = linksextreme Randale-Bande haben die bürgerlichen Medien so weit verinnerlicht, dass bei linksradikalen MigrantInnen aus der Türkei fast immer das Ethno-Etikett »kurdisch« draufgepappt wird. Zwei Beispiele aus dem letzten Monat: Im Spiegel, 3/00, sind auf einem Foto an der Gedenkstätte der SozialistInnen Mitglieder der türkischen linken Partei MLKP zu sehen - per Bildunterschrift werden sie als »kurdische Marxisten« gelabelt. In der Frankfurter Rundschau wurde der in Hamburg gegen Isolationsfolter protestierende Illhan Yelkuvan zum »kurdischen Häftling« erklärt; er sei Mitglied der »kurdischen DHKP-C«. Die DHKP-C kommt aus der revolutionären Linken der Türkei - im März 1999 verurteilte sie die Bombenanschläge einer »Kurdischen Rachebrigade« auf öffentlichen Plätzen in der Türkei. In London wurden deshalb am 24. März drei Anhänger der DHKP-C zusammengeschlagen und schwer verletzt. Die PKK-nahe ERNK erklärte sich auch in dieser Sache zur Sprecherin eines angeblichen kurdischen Volksinteresses: »Unser Volk will nicht, dass ihr ein solches Flugblatt verteilt.« Aber solche Feinheiten interessieren Journalisten nicht, die alles gerne in ihre Ethno-Schubladen sortieren.

Der Protest gegen PKK-Verbot und Öcalan-Entführung blieb in der BRD fatalerweise den SympathisantInnen von PKK und »kurdischem Volk« überlassen. Dort wird ein Bild von MigrantInnen gepflegt, das diese wieder in ein Stereotyp presst, zum Beispiel von der Kurdistan-Aktivistin Sabine Skubsch: »MigrantInnen, (...) die meinen, ihre Würde nur in einem verzweifelten Festhalten an alten Traditionen erhalten zu können«. Skubsch geht davon aus, es gäbe statische alte Traditionen, an denen »die« MigrantInnen aus Türkisch-Kurdistan verzweifelt festhalten. Dieses Bild hat wenig mit der tatsächlichen Vielfalt von Lebensentwürfen und Identitäten gemein: Gerade die fließenden Übergänge, die es für MigrantInnen der zweiten und dritten Generation zwischen Identitäten gibt, lassen sich mit einer Zuordnung zu Traditionen nicht fassen.

EinwanderInnen aus der Türkei werden ausgegrenzt - ob sie sich selbst als kurdisch, türkisch oder deutsch verstehen, ist zweitrangig. Sie werden nach Äußerlichkeiten und sozialem Status als vermeintliche AusländerInnen diskriminiert. Gegen rassistische Diskriminierung und Verfolgung zu sein, ist immer richtig, unabhängig von der Selbstdefinition des Opfers. National aufgeladene Selbstzuschreibungen liegen meist in der sozialen Dynamik von Ausgrenzung und darauf folgender Selbstethnisierung begründet, für die alte oder neu erfundene Traditionen als Legitimation dienen.

Die gegenwärtige Kurdisierung und Türkisierung unter MigrantInnen aus der Türkei liegt wesentlich an der rassistischen Ausgrenzung seitens der deutschen Dominanzgesellschaft. Gerade Kinder und Jugendliche suchen sich eine Identität, mit der sie sich trotzig gegen die alltägliche Ausgrenzung meinen behaupten zu können. Goldkettchen mit türkischen Nationalsymbolen sind hiervon nur der offenkundigste Ausdruck. Oder die Halstücher in den kurdischen Farben, die weit verbreitete Verehrung für Apo.

Auch der brutale Krieg der türkischen Armee in den Aufstandsprovinzen hat eine verstärkte Polarisierung - »türkisch« versus »kurdisch« - bewirkt. So wie es in Türkisch-Kurdistan besonders in den Dörfern kaum eine Möglichkeit gibt, sich nicht zwischen Armee und Guerilla zu entscheiden, so gibt es in der Bundesrepublik eine Kurdisierung durch die Erzählungen über Kriegsgräuel und Repression. Bei den Fernsehsendern ist es die Entscheidung zwischen dem türkischen Staatsfernsehen TRT und dem PKK-nahen Sender MED-TV, der aus Westeuropa sendet.

Insbesondere in der zweiten Generation entdecken MigrantInnen ihr Kurdisch-Sein. Oft sprechen die Eltern weder Kurdisch, noch pflegen sie »alte Traditionen«. Aber ihre Kinder nehmen zum Teil die Option wahr, als Kurde/ Kurdin jemand zu sein. Viele der Aktiven, die in den letzten Jahren als Kämpfer zur PKK-Guerilla gingen, mussten erst einmal Kurdisch lernen. Es kann also nicht darum gehen, irgendetwas über die Migrantinnen aus Türkisch-Kurdistan verabsolutieren zu wollen. AktivistInnen des kurdischen Studierendenverbandes YXK glauben fest an ein kurdisches Volk und dessen Verwurzelung in der Heimaterde, obwohl sie selbst in Deutschland aufgewachsen sind. Es ist auch klar, dass es viele Flüchtlinge gibt, die vor dem Krieg in der Türkei geflohen sind, und für deren Selbstbild die Kriegserfahrungen und auch die PKK wichtig sind. Trotzdem ist der Großteil der Menschen aus der Türkei, die in der BRD leben, schon lange vor dem Krieg zwischen PKK und türkischer Armee, der am 15. August 1984 begann, in die BRD eingewandert.

Die Kurdistan-Solidarität hat sich mehrheitlich nicht von dem Bild nationaler und ethnisierter Sortierung gelöst, das in Deutschland vorherrschend ist. Vielmehr versucht sie zum großen Teil an die Begriffe von »alten Völkern« und »Traditionen« anzuknüpfen. Dagegen ist der Einsatz für ein uneingeschränktes Bleiberecht für alle und die Kritik an der Festung Westeuropa in der BRD zentral. Aber große Teile der Kurdistan-Solidarität hängen sich an die Debatte der Herrschenden an, ob und wie die Türkei die Kriterien für einen EU-Beitritt erfüllen könne. Die Bundesrepublik als ein Land, in dem täglich das gesetzlich garantierte Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit im rassistisch geprägten Alltag zu Makulatur wird, darf nicht dazu legitimiert werden, im Namen von Menschenrechten Außenpolitik zu betreiben. Erst recht nicht nach dem im Namen von Menschenrechten geführten Nato-Krieg gegen Jugoslawien.

An prominenter Stelle aktiv dabei, mit Hilfe von EU und BRD Menschenrechte in der Türkei einzufordern, ist Claudia Roth von den Grünen. Ende 1998 sagte sie zur Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen als neue Vorsitzende des Bundestagsaussschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe: »Mein Stellvertreter ist Christian Schwarz-Schilling, der sich immer für die Menschenrechte eingesetzt hat. Dabei hat er sich auch nicht gescheut, sich mit seiner eigenen CDU/CSU-Fraktion anzulegen. Insofern ist er ein Vorbild für mich. Ich hoffe, dass wir alle an einem Strang ziehen werden.« Schwarz-Schilling war 1994 als Minister zurückgetreten, weil die Kohl-Regierung für seinen Geschmack zu wenig Druck in Sachen Menschenrechte auf Jugoslawien machte.

Aus Kreisen der Kurdistan-Solidarität wird weiter an die Regierung der BRD appelliert, doch bitte für die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei zu sorgen. Und der PKK-Präsidialrat reagierte auf die Ernennung der Türkei zum EU-Beitrittskandidaten am 11. Dezember mit einem Appell an die EU: »Noch wichtiger wird es sein, dass die Türkei die für eine EU-Mitgliedschaft erforderlichen Bedingungen erfüllt (...). Die wichtigste Aufgabe ist jetzt, die Türkei für ihre Kompatibilität zu europäischen Normen vorzubereiten.«

Die PKK redet von europäischen Normen und übersieht in ihrer nationalen Fixierung auf die »kurdische Frage«, dass die wichtigste EU-Norm die Freiheit des Kapitals ist: »In Anbetracht dieser Tatsachen muss die Lösung der kurdischen Frage eine Vorbedingung für die Mitgliedschaft der Türkei in der EU sein«. Die Idee, Rechte für Flüchtlinge und MigrantInnen in der EU zu fordern, war der PKK keinen Halbsatz wert. Dass gerade Flüchtlinge aus der Türkei unter dem Schengen-Abkommen leiden und immer gefährlichere Einreisen wagen müssen, scheint die PKK nicht zu interessieren. Auch nicht, dass Menschen mit türkischem Pass nach dem EU-Beitritt das Recht auf Freizügigkeit und damit auch das Bleiberecht noch zehn Jahre lang verwehrt werden soll.

Einen kleinen Vorgeschmack bot der Beitritt Griechenlands zum Schengen-Abkommen am 1. Januar 2000. Prompt forderten deutsche Medien, die Schotten noch dichter zu machen - so die FR vom 4. Januar: »Dass die Griechen diese Seegrenze nicht perfekt abriegeln können, liegt auf der Hand. Deshalb ist nun auch die Türkei gefordert (...) Wenn die Regierung in Ankara es ernst meint mit der EU-Kandidatur, muss sie mithelfen, den Menschenschmuggel über die Ägäis zu unterbinden.«

Der Artikel basiert auf einer Debatte in den blättern des iz3w.