Finaler Freispruch

Das Kieler Urteil im "Lübecker Brandprozeß" räumt mit den bislang gestreuten Zweifeln an der Unschuld Safwan Eids auf.

Wie überzeugt sie doch alle waren. Mariam Niroumand, heute Lau, etwa machte sich in der taz schon Gedanken darüber, warum "wir" auch dann noch schuld sein wollen, "wenn wir wirklich nicht schuld sind". Konrad Adam von der FAZ nutzte die Chance gleich für ein Plädoyer zur finalen Entsorgung deutschen Schuldbewusstseins: "Die endlose Geschichte vom Tätervolk hat einen vagabundierenden Schuldvorrat entstehen lassen, der immer wieder Bestätigung verlangt."

Wer fortan noch glatzköpfige Bösewichte ins Spiel bringen wollte, wenn Flüchtlingsunterkünfte in Flammen aufgehen, dem würden die Kommentatoren ein für allemal das Maul stopfen. Eben "Lübeck als geistige Lebensform", wie Adam doppeldeutig formulierte. Schließlich schien mit der schnellen Freilassung deutscher Rechtsradikaler und der Verhaftung Safwan Eids besiegelt, was alle wissen wollten: Die Ausländer aus der Lübecker Hafenstraße haben sich selbst angezündet. Der Brandanschlag, bei dem am 18. Januar 1996 zehn Menschen ihr Leben lassen mussten, wurde von einem Mann verübt, der selbst mit seiner Familie in dem Haus gewohnt hatte. Schluss der Debatte.

Knapp vier Jahre und zwei Prozesse sind seither vergangen. Verdächtigungen gegen den Beschuldigten, gezielt gestreut von der Lübecker Staatsanwaltschaft, prägten den öffentlichen Diskurs, gebrochen durch die permanenten Anstrengungen der Anwältinnen Gabriele Heinecke und Barbara Klawitter, ihren Mandanten zu entlasten. Der Verdacht war geblieben: Wenn nicht Eid selbst, so sind zumindest seine Mitbewohner verantwortlich für das tödliche Feuer. Nicht zuletzt durch den "Freispruch zweiter Klasse", mit dem die Lübecker Jugendkammer im Sommer 1997 wider jede Beweislage zumindest eine Mittäterschaft des Flüchtlings nahe legte, blieb dieses Bild bestätigt. Die gezielten einseitigen Ermittlungen, die den Prozess gegen den Flüchtling erst möglich gemacht hatten, waren kaum der Erwähnung wert.

Und nun? Vergangene Woche musste man sich von den konservativen Frankfurter Blattmachern empfehlen lassen, "den Landgerichtsbezirk Lübeck weiträumig zu umfahren". In der Kritik des FAZ-Autoren Volker Zastrow: "Der zunehmend persönlich geführte Kampf der Lübecker Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten" mit Hilfe der "Kolportage belastender oder vermeintlich belastender Indizien". Vorsichtiger, aber immerhin kritisch, konstatierte die taz ein "schlechtes Zeugnis" für die Ermittlungsbehörden. Kommt jetzt die große Versöhnung? Buhlt plötzlich das grüne und das konservative Establishment um die Hand jener wenigen Linksradikalen, die von Anfang an die "rassistischen Ermittlungen" der Strafverfolger brandmarkten? Wohl kaum. Denn dass gegen den Libanesen nie ernst zu nehmende Beweise vorgelegen hatten, konnte jeder vernunftbegabte Mensch wissen, der es wissen wollte. Von Anfang an.

Die wenigsten wollten es wissen. Doch mit dem Urteil des Kieler Richters Jochen Strebos kommen nun die in die Bredouille, die bis heute an der Täterschaft Eids festgehalten haben. Nach dem Freispruch, mit dem der Angeklagte vergangene Woche den Gerichtssaal verlassen konnte, ist jeder weitere Versuch, ihm die Verantwortung für das tödliche Feuer anzuhängen, zum Scheitern verurteilt.

Die Entscheidung der Jugendkammer bietet keinen Spielraum für weitere Denunziationen - vorausgesetzt, das Urteil erfährt nicht noch, wie nach dem Lübecker Spruch geschehen, eine unerklärliche Verwandlung. Die "Säulen der Anklage" haben sich, so stellte Verteidigerin Klawitter in ihrem Schlussplädoyer vergangene Woche klar, als "Trümmerhaufen von Konstrukten, Erfindungen und Spekulationen zulasten Safwan Eids" erwiesen. Weder die Protokolle heimlich abgehörter Gespräche noch die Aussage des Sanitäters Jens Leonhardt, dem einzigen Zeugen der Anklage, konnten eine Tatbeteiligung Eids belegen. Im Gegenteil: Es gebe, sagte der Gerichtvorsitzende Strebos, "gewichtige Argumente für die Unschuld" des Libanesen. In den Mitschnitten der Unterhaltungen, die Eid mit Angehörigen im Gefängnis geführt hatte, erkannte selbst Staatsanwalt Andreas Martin eher Entlastendes und forderte einen Freispruch. Ebenso Richter Strebos: Für ihn sprachen die Aufnahmen "in ihrer Gesamtheit eher dafür, dass der Angeklagte vom Brand überrascht wurde und dass er keine Kenntnis über die Brandlegung besaß".

Dabei war der Prozeß nur ein zweites Mal aufgerollt worden, weil sich die Juristen vom Bundesgerichtshof erhofft hatten, mit Hilfe der Aufzeichnungen Eids Schuld zu beweisen. Dass die Protokolle, wie die Karlsruher Richter monierten, nicht schon beim ersten Verfahren eingebracht worden waren, diente vor allem den Lübecker Ermittlern um Staatsanwalt Michael Böckenhauer. So konnte der damalige Ankläger an der vermeintlichen Beweiskraft der Protokolle festhalten. Und damit an der Schuld Safwan Eids. Jeden Versuch, die tatverdächtigen rechtsradikalen Deutschen aus Grevesmühlen auf die Anklagebank zu bringen, konnte Böckenhauer somit guten Gewissens ins Leere laufen lassen.

Dieses Vorgehen hat das Kieler Verfahren nun offen gelegt. In den vergangenen Wochen bestätigte sich dort, dass der im Auftrag der Strafverfolger arbeitende Sprachexperte Aziz Yachoua vor allem übersetzte, was seine Arbeitgeber hören wollten. So interpretierte er den Satz: "Wenn ich gestorben wäre" als "Wenn ich gestehen würde". Die Worte: "Ich habe alle beruhigt" wurden zu: "Ich habe alle zum Schweigen gebracht". Eine geradezu peinliche Angelegenheit für Böckenhauer, schließlich dürfte es kaum jemanden geben, der besser über diese "Schwachstelle" informiert gewesen war.

Und auch mit dem Kronzeugen Leonhardt, bis dato der Joker der Lübecker Staatsanwaltschaft, sollten die Ermittler nachträglich auf die Schnauze fallen. Selbst für den Fall, dass Eid tatsächlich auf der Fahrt ins Krankenhaus "Wir warn's" gesagt habe, so resümierte Richter Strebos, sei daraus kein Geständnis und kein Hinweis auf eine Tatbeteiligung abzuleiten. Schließlich stimmten die angeblichen Details, die der Libanese geschildert haben soll, nicht mit den tatsächlichen Verhältnissen im Gebäude überein. Im Gegensatz zu den Lübecker Richtern, die Leonhardt vollkommene Glaubwürdigkeit attestiert hatten, ließ die Kieler Kammer zudem ausdrücklich offen, ob die Sätze überhaupt so gefallen sind. Last not least widersprach Strebos auch noch der Unterstellung, Eid habe nach seiner Rettung in der Brandnacht ein "auf Beseitigung von Tatspuren angelegtes Verhalten" an den Tag gelegt. Demnach hat der Angeklagte nicht, wie noch im ersten Urteil behauptet, heimlich geduscht und seinen Kaftan weggeworfen. Damit war auch das letzte angebliche Indiz erledigt.

Nichts, rein gar nichts ist also von all den Verdachtsmomenten geblieben, mit denen die Lübecker Staatsanwaltschaft, aber auch das Lübecker Gericht hausieren gegangen waren. Wenn jetzt, nach einer nur durch die gezielten Ermittlungen notwendig gewordenen juristischen Absolution Eids, auch die Frankfurter Rundschau konstatiert, dass der Flüchtlinge "gar nicht erst hätte angeklagt werden dürfen", bestätigt das nachträglich, was, hätte man den Blick weg von den Verlautbarungen der Strafverfolger hin zu den Fakten gelenkt, von vorneherein klar war. Dennoch: ein kleiner Erfolg. Aber nur ein kleiner. Immerhin wird er Safwan Eid, seiner Familie sowie den meisten anderen ehemaligen Bewohnern Genugtuung bescheren.

Doch zugleich wurde für die Zukunft vorgesorgt. Es war wohl Jean-Daniel Makudila, jener Mann, der fünf Kinder und seine Frau in dem Feuer verloren hatte, der nach dem Urteil die treffendste Frage aufwarf: "Was will man jetzt noch machen?" Vier Jahre nach dem brutalsten Brandanschlag auf Asylsuchende in der bundesrepublikanischen Geschichte hat die Lübecker Staatsanwaltschaft erfolgreich jeden Versuch vereitelt, den Tätern auf die Spur zu kommen: Beweismittel haben sich verflüchtigt, die letzten Ermittlungen gegen die vier Mecklenburger Männer sind eingestellt. Die Brandruine ist einem Parkplatz gewichen. Geblieben sind jene Kommentatoren, die sich auch beim nächsten Anschlag im Vertrauen auf die deutsche Justiz darüber Gedanken machen werden, warum "wir" immer schuld sein wollen, auch "wenn wir wirklich nicht schuld sind". Dabei waren es doch gerade diese Apologeten der modernen Zivilgesellschaft, die sich letztlich im Diskurs um den Lübecker Brandanschlag blamiert haben.