Nato am Boden

Mit den Luftangriffen auf Jugoslawien ist die Situation auf dem Balkan eskaliert. Jetzt wird der Einsatz von Bodentruppen gefordert

So unklar vieles den Nato-Strategen nach dem Scheitern der Verhandlungen von Rambouillet auch gewesen sein mag, klar war den Militärs in Brüssel zumindest eines: Der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic sollte durch die Luftangriffe auf Stellungen seiner Armee zurück an den Verhandlungstisch gezwungen werden - Ram-bouillet durfte nicht sterben.

Doch an eine Verwirklichung des Pariser Abkommens glaubt knapp zwei Wochen nach Beginn des Nato-Angriffs niemand mehr. Auch die anderen Ziele, für die das Bündnis angetreten war, rücken mit jeder Cruise Missile in weite Ferne: Die humanitäre Katastrophe, die zu verhindern das Bündnis angetreten war, hat mit dem Einsatz erst richtig begonnen; Milosevic wurde nicht geschwächt, sondern ist so stark wie nie zuvor. Und ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Nato-Staaten haben nun eine Diskussion um den Einsatz von Bodentruppen begonnen, eine weitere Eskalation ist nicht mehr auszuschließen.

Dabei hatten die Bündnis-Partner so siegessicher begonnen - mit gezielten Militärschlägen würde Milosevic schon zum Einlenken gezwungen werden können, wie drei Jahre zuvor in Bosnien. Monatelang verknüpften die westlichen Staaten der Balkan-Kontaktgruppe (USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien) ihre diplomatischen Initiativen mit der Drohung gegen Milosevic, auch militärisch in Jugoslawien einzugreifen. Der Nato-Aktivierungsbefehl ("Act Ord") von Oktober 1998 wurde nie aus-, die Eskalations-Szenarien des Militär-Bündnisses immer wieder in Gang gesetzt: zuletzt im Januar nach den Leichenfunden in Racak. Als Milosevic sich Ende März - nach der Vertagung der Rambouillet-Gespräche und weiteren vier Wochen Pendel-Diplomatie - immer noch weigerte, das von der kosovo-albanischen Verhandlungsdelegation zu diesem Zeitpunkt bereits unterzeichnete Autonomie-Papier zu unterschreiben, verzichtete das Militärbündnis auf weitere Drohgebärden - und schlug los.

Vorbild war dabei das Modell Bosnien. Im August 1995, drei Jahre nach Beginn des Krieges in der früheren jugoslawischen Teilrepublik, folgten die europäischen Staaten den USA, die schon früher für Angriffe auf Stellungen der bosnischen Serben um Sarajevo herum plädiert hatten. Zwei Tage nach dem Mörsergranaten-Anschlag auf den Marktplatz der bosnischen Hauptstadt startete die Nato ihren ersten Einsatz außerhalb des Bündnis-Territoriums. Drei Tage lang, vom 30. August bis zum 1. September, bombardierten britische, französische und US-Flieger dann nicht nur den serbischen Belagerungsring um das Tal von Sarajevo, die Allianz weitete ihre Militäraktion Deliberate Force auf den gesamten Norden und Westen Bosniens aus, auf Regionen also, die mit dem Granatangriff nichts zu tun hatten - bis Milosevic schließlich einlenkte.

Doch was nach der Rückkehr des damals noch serbischen Präsidenten an den Verhandlungstisch als militärisches Glanzstück gefeiert wurde, entsprach kurzfristigen taktischen Erwägungen. Was der US-Chefunterhändler für den Balkan, Richard Holbrooke, in seinen Dayton-Memoiren später auch offen zugab: "Als es in den Wochen nach Beginn des Bombardements zu Fortschritten am Verhandlungstisch kam, folgerten die meisten Beobachter, die Operation Deliberate Force sei Teil einer umfassenden Verhandlungsstrategie gewesen. Das traf nicht zu. In keiner der Diskussionen vor unserer Mission waren Bombenangriffe als Teil der Verhandlungsstrategie in Erwägung gezogen worden."

Dennoch versuchten die Nato-Staaten zumindest während der ersten beiden Phasen der Angriffe auf Jugoslawien, diese so zu begründen: Um eine Autonomie-Regelung für das Kosovo doch noch durchzusetzen, müßte Milosevic eben an den Verhandlungstisch gebombt werden. Man sei nicht die Luftwaffe der UCK, sondern wolle nur die von der Balkan-Kontaktgruppe vorgelegte politische Lösung erzwingen.

Als diese nach einer Woche Luftangriffe in immer weitere Ferne rückte, begann das Bündnis Mitte letzter Woche, auch jugoslawische Truppeneinheiten anzugreifen, Brücken wurden zerstört, am Wochenende erstmals Regierungsgebäude angegriffen.

Von einer Rückkehr an den Verhandlungstisch sprach da schon keiner mehr. Am Ostersonntag erklärte US-Außenministerin Madeleine Albright das Abkommen von Rambouillet faktisch für gescheitert - der Nato ist damit auch die eigene politische Legitimation für die Militäraktion abhanden gekommen. Der Punkt sei erreicht, so Albright im US-Fernsehsender NBC, wo die Nato auch ohne Unterzeichnung eines Friedensabkommens durch die jugoslawische Regierung Bodentruppen in das Kosovo entsenden könne - diese als etwas anderes als die Schutztruppe der UCK zu bezeichnen, dürfte selbst Brüssel schwerfallen.

Schon während des Bosnien-Krieges hatten Gegner einer reinen Luftkriegstrategie im US-Pentagon mit Verweis auf den Vietnam-Krieg argumentiert, daß Luftschläge wirkungslos seien, solange sie nicht durch Bodentruppen unterstützt würden. Diese Diskussion ist durch den Vorstoß Albrights nun auch für das Kosovo neu entfacht. Mit einem entscheidenden Unterschied zu Bosnien- die Vereinten Nationen bleiben diesmal außen vor.

Der Vorstoß von Albright wurde selbst vom bislang skeptischen US-Kongreß unterstützt; auch republikanische Abgeordnete haben inzwischen die Entsendung von Bodentruppen gefordert. Aber vollkommene Einigkeit zwischen den Nato-Partnern scheint noch nicht zu bestehen. Der britische Premierminister Tony Blair vertrat in der Ostermontagsausgabe des britischen Boulevardblatt Sun weiterhin die Position, daß ein Einsatz von Bodentruppen nur zur Überwachung einer politischen Vereinbarung für das Kosovo in Frage komme.

Der Einsatz von Nato-Bodentruppen birgt jedenfalls hohe Risiken. Die jugoslawischen Streitkräfte sind gut ausgerüstet und auf die Auseinandersetzung mit Invasionstruppen vorbereitet, die Nato hat daher mit starkem Widerstand zu rechnen. Zudem müßte das Bündnis für eine Kosovo-Invasion ein großes Kontingent auf dem Balkan formieren - die Truppenzahlen schwanken zwischen 150 000 und 200 000 Soldaten. Um einen "humanitären Korridor" zur Evakuierung der Flüchtlinge freizukämpfen, käme die Nato jedoch mit erheblich weniger Soldaten aus.

Zudem müßte den Bodentruppen ein Sprungbrett in das Kosovo zur Verfügung stehen. Die Verlegung von Truppen in das Kriegsgebiet durch Nord-Griechenland ist wegen zu erwartenden Widerstands der Bevölkerung sehr heikel - die Hafenarbeiter von Thessaloniki beispielsweise haben für diesen Fall schon Streiks angedroht. Mazedonien hat ausgeschlossen, als Aufmarschgebiet für Kampftruppen zur Verfügung zu stehen, was sich aber möglicherweise ändern ließe.

Aber ein erster Schritt in Richtung Bodenkrieg ist schon getan. Die US-Regierung hat an Ostern den Einsatz von Apache-Kampfhubschraubern im Kosovo angeordnet. Die sind eine effektive Waffe gegen feindliche Panzer und Soldaten, zugleich aber verletzlich. Um abgeschossene Besatzungen wieder herauszuholen, müßten schließlich doch wieder Bodentruppen eingesetzt werden. Zusätzlich zu den 24 Kampfhubschraubern werden deshalb 2 000 US-Soldaten sowie 18 Raketenwerfer für den Bodeneinsatz nach Albanien verlegt. Die Militarisierung des Landes schreitet voran.

Jenseits der militärischen Eskalation lassen sich erste Ergebnisse des Nato-Einsatzes festhalten: Die am Nato-Krieg beteiligten europäischen Staaten haben allesamt ihre eigenen Verfassungen gebrochen - die Nato, offiziell ein Verteidigungsbündnis, ist zur offensiven Kriegsallianz geworden, die Nato-Aggression gegen einen souveränen Staat ist ohne Uno-Mandat ebenfalls ein Novum. Und die Erklärung von UN-Generalsektretär Kofi Annan, er werde den Einsatz nicht blockieren, ist ein Eingeständnis des Bankrotts der UN.

Auch diejenigen Friedensfreunde und Nicht-Regierungsorganisationen, die immer wieder den weltweiten Einsatz von UN-Truppen in "humanitären" Missionen gefordert haben, sind nun in Erklärungsnöten. So schrieb Jean-Christophe Rufin, früherer Vize-Präsident von Ärzte ohne Grenzen, in Le Monde: "Sie waren die ersten, die die Passivität der politischen Antwort auf dramatische Vorkommnisse auf dem Balkan oder in Afrika beklagten. Nun haben sie, was sie wollten, zumindest scheinbar." Mittlerweile hat sich die Nato die humanitäre Begründung für Truppeneinsätze zu eigen gemacht. Rufin weiter: "Eine solche Maschine in Bewegung zu setzen, erfodert einen trigger. Heute ist der nicht mehr militärisch. Ebensowenig politisch. (...) Der trigger der Nato ist heute humanitär. Es braucht Blut, Massaker, irgend etwas, was die öffentliche Meinung entrüstet, damit sie eine gewalttätige Reaktion willkommen heißt."