Politik (und Fortsetzung)

Nach dem Versagen seiner Balkan-Politik versucht es Deutschland mit Balkan-Krieg. Wer an der Rationalität zweifelt, der gilt als Unmensch.

Der Krieg, lehrt uns Clausewitz, ist lediglich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das klingt nach Rationalität - aber nur deswegen, weil man der Politik, gemessen an der Barbarei des Krieges, doch noch einen etwas größeren Vernunftcharakter zugesteht. Wenn aber bereits die vorgeblichen oder tatsächlichen Ziele der Politik und die von ihr erreichten Effekte diametral auseinanderfallen, dann vermag der Krieg keine neue rationale Komponente einzuführen.

Wem diese schlichte Grundlage politischer Theorie zu abstrakt war, der konnte am Donnerstag vergangener Woche im Deutschen Bundestag lernen, wie aus Theorie Praxis wird.

Insgesamt fünfzig Parlamentarier sprachen sich gegen den Krieg aus - je sieben von SPD und Grünen sowie die gesamte 36köpfige PDS-Fraktion. Neun Redner aus allen Fraktionen taten am Donnerstag ihre Meinung zum Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen Jugoslawien kund. Zwei von ihnen - PDS-Fraktionschef Gregor Gysi und der Grünen-Abgeordnete Christian Ströbele - kritisierten den Bundeswehr-Einsatz. Den sieben anderen - darunter Verteidigungsminister Rudolf Scharping und zwei weitere SPD-Parlamentarier sowie die Verteidigungspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Angelika Beer - fiel zur Begründung für den Militäreinsatz nichts anderes ein, als daß ihnen auch nichts anderes mehr eingefallen war als ein Militäreinsatz. Unsere Politik ist gescheitert, also werfen wir jetzt Bomben - das ist terroristische Logik.

Mit der Entscheidung für den Kriegseinsatz, so Frau Beer, positioniere ihre Partei sich "in voller Verantwortung in dieser Regierungskoalition". "Ich hoffe, daß diejenigen, die uns oder mich persönlich, wie in den letzten Tagen geschehen, als Kriegstreiber bezeichnen, endlich die Antwort auf die Frage geben, was denn die Alternative zu dieser schwierigen Entscheidung gewesen wäre", empörte sie sich. "Machen Sie doch einmal einen Vorschlag!" unterbrach der SPD-Parlamentarier Wilhelm Schmidt immer wieder die Reden von Ströbele und Gysi, "was ist denn Ihre Lösung?" Was seine eigene Lösung ist, wußte Schmidt, als er selbst am Rednerpult stand, freilich auch nicht mehr.

Sicher war er sich nur, daß sich der Bundestag am Morgen nach dem ersten Kriegseinsatz nicht mit diesem Thema befassen müsse, denn es sei "überhaupt kein Argument für eine Debatte, so zu tun, als würde uns der Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien zeitlich überraschen".

Am wenigsten überrascht haben dürfte er Scharping, der schon Mitte Januar- ausgerechnet bei einem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz - angekündigt hatte, "Soldaten des demokratischen Deutschlands" würden bei dem Versuch mithelfen, "im Kosovo das Schlimmste notfalls mit der Waffe zu verhindern".

Natürlich durfte der Hinweis nicht fehlen, daß dies eine Verpflichtung sei, die sich aus Auschwitz ergebe. Als erster kannte der Minister auch schon die neue Terminologie: Nicht mit "kriegerischen Auseinandersetzungen", wie Schmidt meinte, habe man es hier zu tun, sondern mit "militärischen Aktionen der Nato", die sich "nicht gegen das serbische Volk, wohl aber gegen eine Diktatur" richteten, welche "verächtlich mit der Würde, der Freiheit und dem Leben von Menschen umgeht". Der Unterschied dürfte den Hinterbliebenen der mehreren Dutzend zivilen Toten, die die Angriffe bis zum Wochenende forderten, ziemlich egal sein.

Doch, so Scharping, "jedes problematische Tun ist besser als jedes Nichtstun". Und schließlich fand der Minister auch noch eine gute Begründung, warum 58 Jahre nach dem ersten Bombardement wieder deutsche Bomben auf Belgrad fallen müssen: "Wir" seien nämlich "verpflichtet, dem ganzen Balkan eine europäische Perspektive zu geben - einer Region in Europa, die in ihrer ganzen Geschichte sehr viele Erfahrungen mit Terror, Unterdrückung und Gewalt sammeln mußte, aber keine Erfahrungen mit dem zivilen Austragen von Konflikten, mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sammeln konnte". Wer keine Erfahrung sammeln konnte, der bekommt Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und zivile Konfliktbewältigung nun aus den Bombenschächten der Nato-Flugzeuge serviert.

Solche Argumente verstärken eine Gefahr, die vor allem FDP-Chef Wolfgang Gerhardt umtreibt: Daß diejenigen, die sie vorbringen, leicht lächerlich wirken können. "Aber es gibt auch", so Gerhardt, "für freiheitlich verfaßte Gesellschaften eine Grenze: Niemals dürfen sie Despoten erlauben, sie lächerlich zu machen." Wie lächerlich es wirkt, wenn jemand aus Angst, lächerlich zu wirken, einen Krieg vom Zaun bricht, das ist Gerhardt vermutlich überhaupt nicht klar. Doch ihn treibt weiter die Sorge um die "freiheitlichen Gesellschaften" um. Die müßten nämlich wissen, "daß das Völkerrecht nicht selbst trägt, sondern daß sie es tragen müssen".

Diese Bemerkung hätte sich der FDP-Vorsitzende besser gespart. Denn eine völkerrechtliche Grundlage für die Luftangriffe ist bislang selbst den juristischen Füchsen unter den Falken nicht eingefallen. "Es ist ein traditionelles Mißverständnis", unternahm zwar Scharping gegenüber dem Spiegel einen entsprechenden Versuch, "daß Völkerrecht nur vom Sicherheitsrat gesetzt wird. Die Uno-Charta, die Kosovo-Resolution des Sicherheitsrats vom Herbst vorigen Jahres und das Recht auf Nothilfe ergeben zusammen eine klare völkerrechtliche Grundlage."

Das war gelogen: Tatsächlich, das ist unter Verfassungsrechtlern unumstritten, darf die Bundeswehr nur dann gegen einen souveränen Staat aktiv werden, wenn sie in individueller oder kollektiver Selbstverteidigung handelt oder vom UN-Sicherheitsrat - und von niemand sonst - ein Mandat erhalten hat. Ein solches Mandat liegt, wie UN-Generalsekretär Kofi Annan unmißverständlich festgestellt hat, nicht vor.

Und von Selbstverteidigung kann, da es sich beim Kosovo-Konflikt um eine innere Angelegenheit Jugoslawiens handelt, ebenfalls keine Rede sein. "Es geht um Menschen!" fiel dem Ost-CDU-Mann Rainer Jork immerhin ein, als Gysi im Bundestag auf die fehlende Rechtsgrundlage hinwies.

Darüber hinaus verstößt, darauf hat der Hamburger Verfassungsrechtler Erhard Denninger hingewiesen, das Bundeswehr-Engagement in Jugoslawien gegen den Zwei-Plus-Vier-Vertrag, in dem es heißt, "das vereinte Deutschland" werde "keine seiner Waffen jemals einsetzen, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen". Eine solche rechtliche Grundlage ist eindeutig nicht vorhanden; ohne sie wird der Jugoslawien-Einsatz aber zum Angriffskrieg, dessen Vorbereitung laut Strafgesetzbuch, Paragraph 80, mit Gefängnis zwischen zehn Jahren und lebenslänglich bestraft wird.

Doch Rudolf Scharping braucht sich nicht zu sorgen. Er hat auch mal Jura studiert und weiß daher, daß es keine Strafe gibt, wo es keinen Kläger gibt. Und ein ernst zu nehmender Kläger ist weit und breit nicht in Sicht. Auf Demonstrationen der Friedensbewegung waren Pazifisten gegenüber nationalistischen Serben in der Minderzahl; allenfalls die PDS brachte bei einer Demonstration in Berlin noch rund 10 000 Leute auf die Beine. Die Gewerkschaften dagegen, die bei früheren Friedensdemonstrationen nicht zu übersehen waren, üben sich in Ergebenheitsadressen an die neue Regierung.

DGB-Chef Dieter Schulte ließ mitteilen, er habe "spontan die schwierige und historische Entscheidungssituation der rot-grünen Koalition gewürdigt und ihr in ihren Beratungen zum weiteren Vorgehen die Unterstützung des DGB zugesichert". Und DGB-Pressesprecherin Sabine Nehls erklärte auf Nachfrage, wenn Verhandlungen nicht weiterführten, um "Massenmord und Massenvertreibung zu verhindern, gibt es zu einem Einsatz von Streitkräften keine Alternative". Deshalb unterstütze der DGB das Ziel der Bundesregierung, "auf diesem Weg Verhandlungsergebnisse zu erzwingen". Man möchte kein Arbeitgeber sein in einem Land, wo Gewerkschafter eine solche Vorstellung von Verhandlungen haben.

Doch der Lehrsatz, daß ein Vertrag nur dann wirksam werden kann, wenn ihm alle Vertragsparteien zustimmen, gehört zu den vielen schlichten Weisheiten, die in Deutschland nicht nur bei Gewerkschaftern verloren gegangen zu sein scheinen. Wenn es um mögliche Nachkriegsszenarien geht, dann werden die Herren und Damen des Krieges merkwürdig wortkarg.

Wahrscheinlich können auch sie sich nicht so recht vorstellen, daß man Serbien erst zu Klump bombt, um nach erfolgter Unterzeichnung auf der Einhaltung bestehender Verträge zu bestehen. Manchmal ist der Krieg eben lediglich die Fortsetzung, wenn die Mittel der Politik versagt haben.