Rußlands Krise

Jelzin - wer sonst?

Während russische Medien spekulieren, ob Boris Jelzin seine Amtszeit bis ins Jahr 2000 durchsteht, deliriert der Kremlchef über eine erneute Bestätigung bei den Präsidentschaftswahlen. Den Nachweis seiner Vitalität führte Jelzin letzte Woche, indem er seinem Regierungschef die Hand schüttelte, ohne umzufallen. Um die Gesundheit des Präsidenten sei es "großartig" bestellt, ließ er selbst wissen. Jelzin mag sich noch einmal bewerben, selbst wenn dies nach der Verfassung unzulässig ist und mit der Behauptung gerechtfertigt wird, er sei einmal nach der alten und erst 1996 nach der neuen Verfassung an die Macht gekommen. Daß seine Leber ebenfalls eine dritte Amtszeit antreten will, scheint unrealistisch.

Schade eigentlich. Denn der Mann macht seinen Job bestens. Wer könnte das krisengeplagte Ex-Vaterland der Werktätigen besser repräsentieren als ein Präsident, der sich, wie beispielsweise beim jüngst abgebrochenen Staatsbesuch in Usbekistan, von seinen Gastgebern stützen lassen mußte? Ist Jelzin, die personifizierte Treuhandanstalt mit Alzheimer-Verdacht, nicht mit seiner "Bronchitis", seinem "erkältungsartigen Unwohlsein", seinem ärztlich angeordneten Arbeitsverbot die Personifizierung der russischen Krise in Permanenz? Diese äußert sich laut Ministerpräsident Primakow in einem Sinken des Realeinkommens der Bevölkerung um 11, der Reduzierung der Importe auf 25 und dem Sinken des Bruttosozialprodukts um 16 Prozent allein in den letzten vier Wochen.

Die unbestreibare Qualifikation Jelzins zur Repräsentation des russischen Gemeinwesens erkennen nicht alle an: Die Kommunistische Partei des Gennadi Sjuganow möchte Jelzin zum Rücktritt zwingen. Aber warum eigentlich? In einem Gespräch mit dem Spiegel hat der Große Vorsitzende aus dem Nähkästchen geplaudert. Was er sich und anderen von seinen Genossen verspricht, ist die überraschende Mitteilung, daß sie "nüchterne Männer" blieben. Mag sein, daß das in Rußland als Fortschritt gilt. Ein großer allerdings ist es nicht. Angesichts der Linie der KP kann man durchaus Verständnis für die Politikverdrossenheit der Verdammten des postkommunistischen Zeitalters annehmen. Wer will schon eine revolutionäre Situation nutzen, wenn die Revolutionäre in erster Linie einen Wandel im Promillepegel des politischen Personals versprechen.

"Ordnung ist Ordnung, Arbeit muß sein", weiß Sjuganow, der für seinen zukünftigen Staat schon jetzt in einem Stil wirbt, der sogar Jost Stollmann die Schamesröte ins Gesicht treiben würde: "Wir unterstützen jeden gern, der an unserem Markt tätig werden möchte. Wir bieten gut ausgebildete Arbeitskräfte zu günstigen Löhnen, reiche Vorräte an Rohstoffen und Fertigungskapazitäten."

Ob er damit auf Zuneigung stößt, ist ungewiß. Welcher Konzern investiert schon in einer Region, deren Ministerpräsident angekündigt hat, seine Regierung sei nur in der Lage, ein Drittel ihrer 147 Millionen Bürger im Ernstfall mit Lebensmitteln zu versorgen, "mehr können wir uns nicht leisten". Die restlichen zwei Drittel im krisenträchtigsten Problemviertel der Weltwirtschaft sind im Ernstfall zu allem bereit: Wer sich vom Staat - wenn überhaupt - die Leistungen in Naturalien abholen kann, der steht auch der Erschießung von Betriebsdirektoren nicht abgeneigt gegenüber, die, wie das Institut für Rußlandforschung in Halle weiß, keine Seltenheit mehr sind.

Dies wissen auch andere: "Von der Stabilität Rußlands hängt auch unsere Stabilität ab", prophezeite der Präsident der EU-Kommission, Jacques Santer, bei seinem Besuch in Moskau und erklärte, eine Bitte um Nahrungsmittelhilfe überprüfen zu wollen.

Tatsächlich hat Rußland den Status der Supermacht gegen den eines Super-Slums eingetauscht, die zugehörigen Nuklearsprengsätze aber behalten: Man möchte nicht mehr ausschließen, daß die Erniedrigten und Beleidigten eine ideelle Gesamt-Betriebsdirektorenerschießung vornehmen.