Casseurs lassen’s krachen

In Frankreich gehen die Schülerinnen und Schüler auf die Straße - und mit ihnen Jugendliche aus den Banlieues

Wieder einmal gibt es viel Bewegung auf Frankreichs Straßen. 200 000 Menschen waren es am Dienstag letzter Woche, 500 000 am Donnerstag: Frankreichs Schüler und Schülerinnen revoltieren öffentlich gegen ihre Lehranstalten. 349 Demonstrationszüge in verschiedenen Städten wurden allein am letzten Donnerstag gezählt.

Gut zwei Wochen ist es her, seit die aktuellen Proteste von einem Gymnasium im südfranzösischen N"mes ihren Ausgang nahmen. Dort hatten die Schüler zu streiken begonnen, weil ihnen seit Beginn des Schuljahres überfüllte Klassen mit 35 bis 40 Personen zugemutet wurden. Ihre zunächst örtlich isolierte Aktion hatte sich binnen weniger Tage auf ganz Süd- und Südwestfrankreich ausgebreitet, weil die Schüler zahlreicher anderer Städte in diesem Protest und der darin enthaltenen Situationsbeschreibung ihre Lage problemlos wiedererkennen konnten.

Drei Hauptforderungen wurden landesweit vorgebracht: die Abschaffung der überfüllten Klassen, die effektives Lernen und einen Dialog zwischen den Schülern unmöglich machen; die Korrektur der Stundenpläne, die meist ohne Abstimmung zwischen den einzelnen Fachlehrern von oben entschieden werden und die oft, bei bestimmten Fächerkombi-nationen, nicht einmal Zeit zum Mittagessen vorsehen. Dazu kommt der Wunsch nach einer Verbesserung der äußeren Lernbedingungen.

Der letzte Punkt zielt auf den mitunter katastrophalen Zustand der Gebäude ab, die oft entweder über- oder aber nicht ausreichend beheizt sind. Und in denen es der Lärm der Leuchtstoffröhren unmöglich macht, das Licht einzuschalten. Mitbedingt auch durch die Zunahme von Gewalttätigkeiten und Beschädigungen vor allem in Schulen der Trabantenstädte sind zudem viele Schulen schlicht baufällig.

Die ganze Situation spiegelt die Auswirkungen einer Sparpolitik wider, die alle öffentlichen Dienstbereiche und "sozialen" Sektoren der Staatsaufgaben trifft. Doch sind auch Nuancierungen geboten: Tatsächlich stiegen die Staatsausgaben für den Bildungssektor in den letzten zehn Jahren von 198 auf 345 Milliarden Franc (gut 100 Milliarden DM). Aber gleichzeitig gingen die Schülerzahlen in den höheren Klassen nach oben. Dies ist Ausdruck der allgemeinen sozialen Krise und insbesondere der horrenden Jugendarbeitslosigkeit, die mit 25 Prozent doppelt so hoch liegt wie die Durchschnittsrate. Also wird der Schulaufenthalt verlängert, um sich so lange wie möglich der drohenden Aussichtslosigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu entziehen.

Machte vor 15 Jahren ein Drittel der Jugendlichen einer Altersstufe das Abitur, so sind es heute über zwei Drittel. Hinzu kommt die dirigistische und bürokratische Verwaltung des Bildungssektors - das französische Bildungsministerium gilt einem Bonmot zufolge als größte bürokratische Organsiation nach der Roten Armee.

Der sozialistische Bildungsminister Claude Allègre nutzt diese Probleme seit geraumer Zeit, um gegen die Lehrergewerkschaften vorzugehen. Sein Ziel: Kostensenkung durch Verbilligung der Überstunden und durch das Absenken der Zahl der Unterrichtsstunden pro Woche. Die Gewerkschaften fürchten, daß bei einem weiterem Stundenabbau die Abgänger öffentlicher Schulen noch mehr gegenüber jenen der Privatschulen benachteiligt wären. Allègre versucht nun geschickt, sich durch die vermeintlich populäre Forderung nach "weniger Stunden" zum Liebling der Schüler zu machen: Gegen die "archaischen Kräfte" im Bildungswesen unterstütze er die Schüler voll und ganz, erklärte der Minister letzte Woche.

Hinter den Kulissen verbreitet Allègre indes seine eigene Analyse der Protestursachen: Der Grund liege darin, so der Minister, daß "die Kommunisten in Moskau an die Macht zurückgekehrt sind". Nachdem sie "Romano Prodi in Italien zu Fall gebracht haben, wollen die Kommunisten jetzt Jospin ans Leder". Nachdem Le Monde diese in seinem Ministerium geäußerte Verschwörungstheorie kolportiert und sich darüber erheitert hatte, beeilte sich Allègre mit einem Dementi. Dennoch dürfte die mitregierende KP nicht allzu erfreut gewesen sein. Einige Lehrergewerkschaften, darunter die linke Mehrheitsgewerkschaft FSU, rufen unterdessen zur Teilnahme an den kommenden Demonstrationen auf.

Kurios bei den bisherigen Demonstrationen war, daß die Polizei die Anzahl der Teilnehmer doppelt so hoch ansetzte wie der Unabhängige und Demokratische Schülerverband FIDL. Und daß nach Medienangaben die Polizei rechtzuhaben scheint. Dies deutet zum einen darauf hin, daß die Protestbewegung sich von der lokalen zur nationale Ebene weiterentwickelt hat und sich bisher jeder organisierten Kontrolle entzieht. Zum anderen aber ist es ein klares Zeichen, wie unwohl dem Schülerverband angesichts dieser breiten Bewegung zumute ist.

Die FIDL wird vom linken Flügel der regierenden Sozialistischen Partei, also der Gauche Socialiste (GS), kontrolliert. Bereits am letzten Mittwoch wurde eine landesweite "Koordination" einberufen, ohne daß vorher Delegierte gewählt worden wären. Le Monde kommentierte: "Dieser Coup der FIDL war vorbereitet worden, um den Anschein einer 'spontanen' Vertretung der Schüler zu erwecken." Doch nur einen Tag später gründete sich eine zweite landesweite "Koordination" - auf Initiative der beiden linken Jugendorganslationen JC (die zur KP gehört) und JCR (die mit der trotzkistischen LCR verbündet ist).

Überschattet wurden die Schülerproteste von Gewalttätigkeiten, die vor und während der Pariser Demonstration (mit 30 000 Teilnehmern am Donnerstag) am Rand ausbrachen. Rund 1 000 sogenannte casseurs (wörtlich: "Kaputtmacher"), fast ausschließlich aus den Pariser Banlieues, hatten vor Demobeginn auf der Place de la Nation begonnen, Schaufensterscheiben zu zerschlagen, Geschäfte zu plündern und Autos anzuzünden. Bevorzugtes Ziel waren Geschäfte für Mobiltelefone und Markenkleidung - die geklauten Sachen werden in den Banlieues weiterverkauft.

Es ist zwar bekannt, daß sich die Gewalt aus den Banlieues insbesondere bei Jugenddemonstrationen Bahn bricht. Neu aber ist, neben der Quantität der Zerstörungen, ihre Qualität: Zum ersten Mal wurden nicht nur Symbole der Staatsmacht und Geschäfte in den besseren Vierteln zur Zielscheibe, sondern auch Demonstranten selbst. In mehreren Fällen wurden Schüler von größeren Gruppen der casseurs angegriffen. Schuhe und Jacken wurden gestohlen, ein Schüler wurde durch einen Messerstich verletzt.

Es scheint, als ob durch das offensichtlich ansteigende Gewaltpotential in den Banlieues Züge einer "Chaosherrschft" einkehren - Staat und Eliten lassen bestimmte Zonen systematisch herunterkommen, um durch das auf diese Weise erzeugte Kriminalitätspotential kollektive Bewegungen zu erschweren oder zumindest eine massive Polizeipräsenz zu rechtfertigen.

Interessant war die Reaktion der französischen Presse: Wurden früher Gewalttaten bei Demonstrationen zum Anlaß genommen, diese insgesamt zu diskreditieren, fällt heute die bisweilen übertriebene Schwarz-Weiß-Unterscheidung zwischen guten Demonstranten und bösen casseurs auf. Nicht mehr politische Opposition, sondern "gefährliche" Bevölkerungsgruppen erscheinen somit als "innerer Feind". Die Boulevardzeitung France-Soir titelte: "Die Kaputtmacher werden die Bewequng nicht kaputtmachen". Doch das Medien-Bild der casseurs, die vollkommen aus dem Schulsystem und der Gesellschaft herausgefallen seien, stimmt nicht. Von 153 am Donnerstag Festgenommenen besuchten nur drei keine Schule mehr.