Der Feind im Bus

In Frankreich streiken die Transportbetriebe für mehr Sicherheit. Von mehr Polizei wollen sie aber nichts wissen

Unsicherheit ist normalerweise eher ein Thema konservativer Propaganda denn sozialer Bewegungen. Aber in der vergangenen Woche wurden mit der Forderung nach mehr Sicherheit die meisten öffentlichen Verkehrsmittel im Pariser Umland, seit Freitag auch in anderen Regionen Frankreichs, lahmgelegt.

Der Ausstand, der im Raum Paris bereits seit der Vorwoche die Vorstadtzüge der nationalen Bahngesellschaft SNCF sowie die regionalen Schnellbahnen (RER) erfaßt hatte, dehnte sich ab Dienstag letzter Woche auf das gesamte Busnetz der Hauptstadt und ihrer Trabantenstädte aus. Alle sieben bei der Pariser Transportgesellschaft RATP vertretenen Gewerkschaften hatten dazu aufgerufen. Angeführt werden die Ausstände jedoch im wesentlichen von der linken Basisgewerkschaft SUD sowie der (ehemals KP-nahen) CGT.

Insgesamt 925 Angriffe auf Fahrer der Pariser Busbetreiberin RATP gab es im vergangenen Jahr, in 747 weiteren Fällen wurden die Busse attackiert, meist wurden Gegenstände auf sie geworfen. Und auch im Laufe dieses Jahres erlebten es die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel in Paris gelegentlich, daß eine bestimmte Metro- oder RER-Linie zeitweise nicht mehr befahren wurde - "wegen Aggression gegen einen Fahrer", wie die Lautsprecher in den Stationen vermeldeten. Zwei Überfälle der letzten Woche waren der konkrete Anlaß für den Streikbeginn: Zwei SNCF-Beamte waren mit Schußwaffen bedroht worden, und ein Busfahrer wurde von einem 18jährigen mit einem Messer schwer verletzt.

Die Zunahme von Aggressionen, die sich insbesondere in den letzten zwölf Monaten bemerkbar machte, ist eng mit der Banlieue-Problematik verbunden - mit der Situation der mitunter ghettoähnlichen Trabantenstädte. In keinem anderen europäischen Land gibt es eine so starke räumliche und städtebauliche Segregation von Bevölkerungsgruppen nach sozialen und in manchen Fällen auch "ethnischen" Kriterien wie in den französischen Großstädten Paris und Lyon mit ihren ausgedehnten Banlieues.

Warum aber, so fragt man sich, werden gerade die öffentlichen Transportmittel zur Zielscheibe gesellschaftlich marginalisierter Jugendlicher? In vielen Trabantenstädten, die sozial und ökonomisch ihrem Schicksal überlassen wurden, sind die Busse oder Vorstadtzüge der einzige regelmäßige Kontakt mit der Gesellschaft "draußen". Und damit auch mit dem Staat, der hier oft nur in seiner repressiven Funktion auftritt, während seine sozialintegrative Dimension weitgehend ausbleibt. Daher verkörpert die Uniform von RATP-Angestellten symbolisch den Staat und die herrschende Ordnung. Natürlich ist diese Gewalt in gewisser Weise selbstzerstörerisch, weil sie dazu führt, daß bestimmte periphere Wohngegenden von "draußen" noch mehr abgeschnitten sind als bisher.

Die Beschäftigten der Transportdienste und ihre Gewerkschaften fordern als Antwort auf diese Situation weniger repressive Maßnahmen, sondern vielmehr die Rücknahme der in den letzten Jahren erfolgten Massenentlassungen. Diese Kahlschlag-Beschäftigungspolitik sehen sie als Hauptursache dafür, daß die Fahrer sich meist allein in ihrem Bus oder Zug befinden und den Aggressionen damit relativ schutzlos ausgeliefert sind. Im übrigen sorge die zunehmende Anonymisierung der Transportmittel und Bahnhöfe sowie der fehlende Kontakt mit den Beschäftigten dazu, daß sich die Frustration leichter gegen diese entlade.

So wurde der Personalbestand der RATP in den letzten 25 Jahren von 53 000 auf 38 000 reduziert, obwohl seither 50 neue Vorstadt-Buslinien - einige davon gelten als "heiß" -, zwei neue RER-Linien und zwei Vorstadt-Straßenbahnen eingerichtet wurden. Auch bei der SNCF ist der Personalbestand seit Anfang der neunziger Jahre landesweit von 80 000 auf 60 000 abgebaut worden. In den letzten Jahren war eine Politik des tout automatique geführt worden, die Kosteneinsparung durch die systematische Ersetzung von Beschäftigten durch Automaten erbringen sollte. Die Pariser Banlieues waren davon besonders betroffen. Obwohl der Pendelverkehr zwischen Paris und den Banlieues zur täglichen Arbeit etwa zwei Drittel des gesamten landesweiten Fahrgastaufkommens der SNCF ausmacht, stellt dies nicht einmal ein Viertel der jährlich knapp zehn Milliarden Mark Einnahmen der SNCF dar. Nach dem Rentabilitätsgrundsatz wurde deswegen in diesen "sensiblen" Zonen auch besonders eingespart.

Im Gegensatz zu den Forderungen der Streikenden wird im dominierenden politischen Diskurs vorwiegend der verstärkte Einsatz der Polizei und der staatlichen Repressionsmittel zur Lösung des Problems favorisiert. So sieht der konservative Figaro die Hauptursache dieser Entwicklung in den Banlieues darin, daß der ideologische Druck der Linken "jede Lösung des Immigrationsproblems" verhindere, und fordert entsprechend "die Abschiebung der Sans-papiers" sowie "die strenge Anwendung des Gesetzes". Und die Boulevardzeitung France-Soir verlangte einen Notstandsplan ähnlich dem "Plan Vigipirate", mit dem 1995 auf die Bombenlegungen islamistischer Terroristen in den Pariser Metros reagiert wurde. Die erste Maßnahme der Regierung, die zur Wochenmitte angekündigt wurde, war bezeichnenderweise der Einsatz von 200 zusätzlichen Bereitschaftspolizisten an den Stationen und Bahnhöfen.

Premierminister Lionel Jospin, der anläßlich des Streiks am Donnerstag vergangener Woche eine Fernsehansprache an die Nation hielt, versuchte beide Logiken, die soziale und die repressive, miteinander zu kombinieren: Es sei ein Fehler gewesen, daß die öffentlichen Unternehmen in den letzten Jahren eine Politik des zunehmenden Personalabbaus betrieben hätten; man werde diese Entwicklung rückgängig machen. Zu den von ihm zunächst angekündigten Maßnahmen gehört aber vor allem, daß Eltern künftig stärker für ihre Kinder haften sollen, und daß Angriffe auf Beschäftigte öffentlicher Unternehmen mit Attacken auf Polizisten gleichgesetzt werden sollen.

Zu dieser Gelegenheit erklärte Jospin außerdem, der "alte ideologische Gegensatz" zwischen der Rechten als "Partei der Ordnung" und der Linken als "Partei der Veränderung, der Reform" sei überholt. Insbesondere die regierende Linke, so der Regierungschef vom Parti Socialiste, mache sich nun für "die Ordnung, aber im republikanischen Rahmen" stark.

Die Streikenden aber grenzten sich auf ihren Versammlungen der vergangenen Woche von diesem konservativen Law-and-order-Denken ab: "Mehr Polizei wird unsere Probleme nicht lösen." Der Ausstand wird vielmehr zunehmend als Streik für Neueinstellungen von Eisenbahnern wie Metrobeschäftigten geführt und erreichte mittlerweile auch SNCF-Depots, die nicht direkt von den Unsicherheitsproblemen betroffen sind.

Für Donnerstag und Freitag werden weitere Entscheidungen vom "Runden Tisch" zwischen den Gewerkschaften und der SNCF-Direktion erwartet.