Flüchtlinge sollen schlanker werden

Gefährliche Orte XXIV: Das Sozialamt Neukölln praktiziert das Sachleistungsprinzip für Flüchtlinge auf seine eigene Weise

"Wohnheim Berlin" steht auf dem Schild mitten im tristesten Neuköllner Industriegebiet. Ein Pförtner achtet darauf, daß kein Besucher unangemeldet in das Heim gelangt. Aber wer möchte hier eigentlich zu Gast sein? Neben deutschen Obdachlosen und Flüchtlingen aus der Republik Jugoslawien sind es Türken, Kurden, Araber und Vietnamesen, die vom Sozialamt Neukölln im Wohnheim Teupitzer Straße untergebracht wurden.

Zum Beispiel Marija Mikleus aus Serbien. "Ich fürchte mich, allein zur Toilette zu gehen." Die deutschen Männer im Zimmer nebenan, sagt Frau Mikleus, trinken den ganzen Tag Alkohol. Ob sie zur Toilette, zur Essensausgabe oder nach draußen will, immer muß sie an ihnen vorbei. Anders als die Obdachlosen erhält sie kein Geld für Nahrungsmittel. Wie alle Flüchtlinge muß sie ihre Mahlzeiten in der Kantine einnehmen. Das CDU-geführte Neuköllner Sozialamt praktiziert damit als einziges in Berlin uneingeschränkt das Sachleistungsprinzip. Um 9 Uhr öffnet die Kantine. Kantine? Hier möchte man eigentlich nicht unbedingt seine Mahlzeiten einnehmen, es riecht wie überall im Heim nach Urin, Schnaps und alten Socken. "Das Heim hat keine Reinigungskräfte", erklärt Marija Mikleus. Im Flur hängt zwar ein Putzplan, aber kaum ein Bewohner halte sich dran. "Als mein Mann im Krankenhaus lag, habe ich auch nicht die Männertoilette saubergemacht", sagt sie. Marija Mikleus holt das Frühstück für die dreiköpfige Familie. Die Küchenfrau teilt eine Tüte mit sieben Scheiben Toast, drei Stückchen Butter und Aufstrich aus. Das Haltbarkeitsdatum der Butter ist abgelaufen, das Brot ist pappig. Manchmal sei es bereits angeschimmel, sagt sie, und, daß ihr Mann von den schmalen Rationen sowieso nicht satt werde. Die Küchenfrau füllt die mitgebrachte Kanne mit Kaffee. Sonst gibt es nichts zu trinken. Auch nicht für den 13jährigen Sohn, der eigentlich noch keinen Kaffee trinken sollte. Die meisten behelfen sich mit Leitungswasser. Nur mittwochs, erzählt Marija Mikleus, gebe es abwechselnd einen Liter Saft oder einen Liter Milch. Vor allem frisches Obst und Gemüse wünscht sie sich, doch wie jeder Bewohner erhält sie lediglich ein Stück Obst pro Woche.

Ein Mann aus dem Kosovo kommt dazu. Er bittet, das Frühstück für seinen Mitbewohner mit aufs Zimmer nehmen zu dürfen. Keine Chance, die Frau hinter der Essensausgabe schüttelt den Kopf. Wer essen will, belehrt sie den Albaner, muß selbst kommen oder wenigstens einen Familienangehörigen schicken. Sein Mitbewohner, antwortet der Mann, sei heute zum Sozialamt gegangen. Marija Mikleus verläßt die Kantine schleunigst. Was jetzt folgt, kennt sie allzugut: Der Mann wird mit der Faust auf den Tisch hauen, die Kantinenfrau den Hausmeister rufen, und oft bleibe es nicht bei verbalen Angriffen. Die Wohnsituation und die karge Verpflegung haben sich auch auf die Gesundheit von Frau Mikleus ausgewirkt: "Seit ich hier wohne, wird mir regelmäßig schwindlig." Ein ärztliches Attest bescheinigt ihr ein allergisches Asthma. Ob sie auf bestimmte Lebensmittel oder auf Chemikalien allergisch reagiert, weiß sie nicht. Nur, daß sie die Asthmaanfälle erst hat, seit sie im Heim lebt. Das Sozialamt ignoriert das Attest, Frau Mikleus will jetzt vor dem Verwaltungsgericht den Auszug aus der Teupitzer Straße erstreiten.

Andreas Günzler, der als Rechtsanwalt viele Bewohner betreut, kennt ähnliche Fälle. Einem Mann, der bereits 20 Kilo abgenommen hat, wird eine Magenentzündung attestiert. Um gesund zu werden, braucht er vor allem hygienisch zubereitete Nahrung. Das Sozialamt akzeptiert sein Attest nicht. "Einer anderen Mandantin wurde wegen einer Straftat ihres Mannes das Taschengeld gestrichen. Das mußten wir zurückstreiten." Auch sonst gestaltete sich der Heimaufenthalt so abschreckend wie möglich. Die Frau wurde mit ihrem zweijährigen Kind zuerst in ein Zimmer mit fünf weiteren Frauen gesteckt, jetzt konnte sie zwar in ein anderen Raum umziehen, aber an den Wänden des neuen Zimmers kleben noch Blutfecken vom Vormieter. Eva Weber von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration hat sich in den letzten Wochen im Heim umgesehen. "Die Leute haben Angst, mit mir zu sprechen", sagt sie. "Sie rechnen mit Schikanen." Ein Hausmeister habe einem Jungen mit Schikanen gedroht, falls "die Frau" wiederkommt. Und es blieb nicht bei Drohungen. Einige Heimbewohner haben sich mit Hilfe von Rechtsanwalt Günzler zusätzlich 51 Mark Bargeld pro Monat erstritten: für die Benutzung von Kochplatten und Waschmaschinen, die im Heim nur gegen Münzeinwurf funktionieren, und zum Kauf von Reinigungsmitteln. Ein Mann aus Albanien, der sich die 51 Mark erkämpft hat, erhielt vom Sozialamt postwendend den Umzugsbescheid in die Streitstraße in Spandau. Das Heim in der Streitstraße ist eigentlich nur für die Erstaufnahme gedacht. Zwar ist dort das Essen besser, die Leute müssen aber in Achtbettzimmern wohnen. Die Sozialamtsleiterin habe ihm das Papier mit den Worten in die Hand gedrückt: "Sie gehören doch auch zu denen, die zum Anwalt gegangen sind, um Klopapier zu haben. Dann, bitte, ziehen Sie in die Streitstraße. Dort haben Sie Klopapier." Gegenüber Andreas Günzler, dem Anwalt des albanischen Flüchtlings, hat die Sachbearbeiterin den Wortwechsel geleugnet. Günzler kritisiert, "daß nur die Leute zusätzliches Geld erhalten, die ausdrücklich darauf bestehen. Das Sozialamt weiß, daß sie den anderen zu wenig Geld zahlen, macht es aber dennoch." Die muslimische Familie Shale holt das Mittagessen gar nicht erst ab. "Seit ich hier wohne, habe ich deutlich abgenommen", sagt Frau Shala. Amtsleiterin Ute Christian behauptet in der Öffentlichkeit, auf Wunsch könnten die Flüchtlinge Schweinefleisch-freie Kost erhalten. Davon hat Familie Shala jedoch noch nie gehört. Es gibt im Heim auch niemanden, dem sie ihren Wunsch vortragen könnten.

Für Eva Weber steht fest, daß das Sozialamt falsche Angaben macht. Auf eine Anfrage der Grünen im Bezirk hat die Sozialstadträtin Stefanie Vogelsang (CDU) erklärt, in der Teupitzer Straße seien lediglich 14 Flüchtlinge untergebracht. Doch nach Kenntnis von Eva Weber sind es fast 100.

Viele davon sind Kinder. Sie gehen nicht zur Schule. Grund ist die Ausgabezeit des Frühstücks um 9 Uhr. Wer zur Schule geht, geht nüchtern. Auf eine Anfrage von Jungle World gab die Amtsleiterin an, die Schulkinder könnten das Frühstück am Vortag mit dem Mittagessen in Empfang nehmen. Lediglich auf den Kaffee müßten sie eben verzichten. Hingegen hatte Sozialstadträtin Stefanie Vogelsang gegenüber Jugendstadtrat Michael Wendt (Bündnisgrüne) erklärt, das Frühstück werde für Schulkinder morgens vor Schulbeginn ausgegeben. "Beide Auskünfte sind gelogen", sagt Eva Weber.

Flüchtlingsberater Georg Classen von der Kreuzberger Passionskirchengemeinde bezweifelt zudem, ob die mangelhaft ernährten Kinder "kräftemäßig den Schulweg und den Schulbesuch durchstehen". Kinder erhalten, so Classen, entgegen der gesetzlichen Bestimmungen, vom Sozialamt weder Geld für Kleidung, Schuhe noch für Schulbedarf.