Ferienlager Schlingensief

100 Leute paddelten vorm Kanzler-Strand und riefen "Wir sind das Volk"

Am vergangenen Sonntag gegen 16 Uhr kam am Badestrand von St. Gilgen in Österreich plötzlich das auf, was Fernsehzuschauer als Panik vor dem Weißen Hai kennen. Da veranstalteten deutsche Familien mit ihren Kindern ein gemütliches Picknick, Rentner planschten im knietiefen Wasser, und die Sonne heizte allen ein - Neckermann-Tage, wie wir sie lieben.

Plötzlich füllte sich der Familien-Badestrand mit jungen Menschen, die eigenartige T-Shirts mit dem Aufdruck "Chance 2000" trugen. Zu den jungen Menschen mit den T-Shirts gesellten sich noch einige Dutzend ohne seltsame T-Shirts, dafür mit Kameras, Photoapparaten, Mikrophonen und Handies, um den eben noch idyllischen Badestrand zwischen See und Bundesstraße zur High-Tech-Area aufzurüsten. Mitten drin stand Christoph Schlingensief, Regisseur und Parteigründer von Chance 2000, um an jenem Neckermann-Sonntag gegen den Kanzler anzutreten.

Auch Helmut Kohl stört seit Jahren die Pauschaltouristen-Idylle am Wolfgangsee. Wenn der Kanzler alljährlich in seine Villa einzieht, werden Straßen abgesperrt, und neben Badehosenträgern beherrschen schwerbewaffnete Sicherheitsleute die Straßen von St. Gilgen. Die Villa des Kanzlers liegt etwas abgeschieden am Ortsrand, an einem Steilhang direkt am See. Nur 500 Meter weiter befindet sich der von Schlingensief okkupierte Badestrand. Das Etappenziel des Tages: die Villa.

Zuerst wurden die Mitschwimmer auf die richtigen Parolen eingeschworen. "Heute geht die Marktwirtschaft baden." Oder: "Wir wollen trauern, ein ganzes Leben lang." - "Seid getauft durch dieses Bad", kreischte Schlingensief durch das Megaphon. Schließlich sollten die Badenden ein Bekenntnis ablegen. Und das umschrieb Schlingensief so: "Wer gescheitert ist, darf noch geliebt werden." Insofern hat auch Kohl noch Chancen bei Schlingensief, denn wenn es nach ihm geht, hat Kohls Partei nach den nächsten Bundestagswahlen keine Chance mehr. Ein anderer Platzsprecher äußerte sich noch deutlicher, als Schlingensief sich schon bis zum Bauchnabel im Wolfgangsee befand: "Auch der Redakteur vom Spiegel steht schon bis zu den Knien im Wasser. Und ich sage Euch: Wenn wir mit Chance 2000 an der Macht sind, wird auch der Spiegel absaufen." Bei den Urlaubsgästen am Strand herrschte Verwirrung. Tourist 1 zu Tourist 2: "Was geht denn da vor?" Tourist 2: "Der hat was gegen Kohl." Tourist 1: "Ja, warum hat der denn was gegen den Helmut Kohl? Der soll ihn doch in Ruhe lassen." Tourist 2: "Na, weil sich's der Kohl hier so gut gehen läßt, während so viele bei uns arbeitslos sind." Tourist 1: "Ich bin nicht arbeitslos." Vom Platzsprecher, der am Ufer herumtrottelt, erfahren die Journalisten: "Ich bin auch nicht arbeitslos, und dennoch mache ich hier mit." Na, klar macht er. Arbeitslos oder nicht, ist am Sonntag nicht die Frage. Um das klarzustellen, wird eine Parole aus der Endphase der DDR exhumiert. Als die rund 100 Schwimmer auf Höhe der Kanzler-Villa ankommen, wird gerufen: "Wir sind das Volk." Nur wendet sich der Kalauer diesmal gegen den, der aus zwei Völkern eins gemacht hat. Der Angesprochene wird vom Trubel nicht viel bemerkt haben. Die Villa schien verlassen, es brannte kein Licht, nur die Sicherheitsleute kreuzten mit Elektrobooten vor dem Strand des Kanzlers. Der Kanzler logierte angeblich für einige Stunden im nahegelegenen Parkhotel Billroth. Auch wenn Kohl von den Wählern abgeschrieben wird, hängt man in St. Gilgner weiterhin am dicksten Touristen des Ortes und scheint besorgt um das Wohl des Gastes. Mitarbeiter des Parkhotel Billroth verweigerten den Medien den Zugang zum Hotel. Begründung: "Wir haben geschlossen." Vielleicht aber war im Speisesaal wegen des prominenten Gastes kein Platz mehr.

Rund 20 Minuten paddelten Schlingensief und seine Jünger im Wolfgangsee herum. Ohne Ziel und vermutlich ohne Plan. Bei der Rückkehr der schwimmenden Demonstranten verkündete Schlingensief stolz: "Helmut Kohl ist um 16 Uhr 15 ertrunken." Obwohl diese Nachricht grundsätzlich anzuzweifeln ist, brach bei Verkündung der "Frohbotschaft" tosender Jubel aus. Insgesamt fiel das Happening etwas weniger spektakulär aus, als es Schlingensief geplant hatte. Der Mann ist pleite. Mit Schulden über 70 000 Mark ließen sich die ursprünglichen Planungen nicht verwirklichen. Die sahen vor, daß Tausende Arbeitslose mit ShuttleBussen zum See gekarrt werden, damit dieser die Villa der Kohls überflute. Auf das eingerichtete Spendenkonto gingen nur 8 500 DM ein, Schlingensief mußte die Aktion privat managen. Salzburgs Bürgermeister Josef Dechant trägt Mitschuld daran, daß das Bade-Event kaum besucht wurde. Geplant war, daß das Festival "Sommerszene Salzburg" die Aktion gemeinsam mit Schlingensief als Kunstprojekt realisiert, doch Dechant drohte dem Festival damit, die Subventionen zu streichen, falls sie mit Chance 2000 kooperieren.

In St. Gilgen nahm man von Schlingensief kaum Notiz. Auf der Seepromenade schlenderte das Touristenpublikum wie gewohnt und erfreute sich des atemberaubenden Anblicks zahlreicher Elektroboote.