»Ächz! Stöhn!« Fünfzig.

Die Hamburger Illustrierte feiert sich seit einem Jahr selbst, weil am 1. August vor 50 Jahren die erste Ausgabe des stern erschien

Die Geschichte des stern muß in allen wesentlichen Punkten nicht neu geschrieben werden. Die Hamburger Illustrierte - vom Verlag Gruner + Jahr herausgegeben - war und ist ein Kind ihrer Zeit. Wenn im September 1998 die 2 527. Ausgabe gedruckt ist, wird auch "ein ehrgeiziges Projekt abgeschlossen" sein, schrieb Chefredakteur Werner Funk im Editorial der Nummer 41 vom 1. Oktober 1997 und kündigte einen Rückblick an.

Fortan war jeder Nummer ein Sonderheft beigelegt, in dem jeweils ein Jahr Nachkriegsgeschichte abgehandelt wurde. Funk spart nicht mit Lob: "Meine Kollegen, die an dem Projekt beteiligt waren, haben einen, wie ich finde, hervorragenden Job gemacht." In der Tat ist die Beilage das Beste, was der stern seit langem zu bieten hatte. Manchmal waren die Jahrgangshefte besser als das Blatt selbst: "Damit legen die sich selbst rein, weil die Beilagen zeigen, wie gut der stern einst war", sagt ein Beobachter der Hamburger Journalisten-Szene. Über Geschmack läßt sich bekanntlich streiten. Unbestritten ist, daß der stern eine erfolgreiche Zeitschrift war und ist. Begonnen hat alles am 1. August 1948, als Henri Nannen die erste Nummer erscheinen ließ. Der 1996 verstorbene Henri Nannen und der stern - das ist so etwas wie eine Symbiose. Gerne kokettierte Nannen damit, daß er eigentlich nie ein Konzept hatte und das Blatt "aus dem Bauch heraus" machte. "Wir machen das, was wir für richtig halten, und wenn wir damit Erfolg haben, sind wir darüber sehr glücklich. Wenn nicht, können wir uns morgens beim Rasieren getrost ins Gesicht sehen, weil wir das gemacht haben, was wir für richtig hielten." Jeder Vorstandsvorsitzende eines Verlages würde heutzutage nach einem solchen Satz erst in den Schreibtisch beißen und dann die Kündigung diktieren.

Das angeblich von Nannen erfundene "Lieschen Müller" sollte unterhalten werden und die Welt begreifen. "Die Schönen und die Reichen waren seine Köder", heißt es zur Titelblattgestaltung im Pressetext des Verlags zum Jubiläum. Nannen wollte damit "die Kirche füllen, um zu predigen". Ab den Sechzigern wurde jedoch insbesondere der Voyeurismus von Hänschen Müller befriedigt. Mit seinem Blatt hat Nannen zugleich Politik gemacht und beeinflußt. Im Mercedes-Cabrio fuhr er Mitte der Fünfziger durch die Sowjetunion und brachte die Reportage "Unzensiertes Sowjetreich" mit. "Wenn man Journalist ist, will man die Welt ein bißchen durchsichtiger, ein bißchen verständlicher, ein bißchen weniger gemein, ein bißchen ehrlicher, ein bißchen offener machen", sagte Nannen 1979 im Rückblick.

Journalistisch setzte der stern hier und da Akzente. Zum Beispiel bei der Aufdeckung der Flick-Affäre. Der stern schrieb gegen die Wiederaufrüstung und die Notstandsgesetze, hatte Sympathien für die APO und war neben dem Spiegel Wegbereiter für die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. Später gehörten Themen wie Nachrüstung, Kernenergie, Umweltschutz und Gentechnik zum Standardrepertoire. Unvergessen auch die Bekennerinnenaktion "Wir haben abgetrieben". Oder Gerhard Kromschröder: Er machte es wie Günter Wallraff, ging nach "ganz unten" und lieferte gelungene Reportagen über sein Leben als Ausländer und Berber ab. Noch heute wird darüber gestritten, ob der "größte anzunehmende Unfall in der Zeitschriftengeschichte", wie Funk unlängst in einem Interview die Veröffentlichung der gefälschten Hitlertagebücher 1983 nannte, dem stern nachhaltig Schaden zugefügt hat. Funk ist der Meinung, das Blatt habe danach wieder an seine große Tradition anknüpfen können. Die Redaktion sei in den Folgejahren noch professioneller geworden, Geschichten seien besser denn je recherchiert und geschrieben. Als Konsequenz aus der "Tagebuch"-Affäre hatte sich Nannen völlig aus dem Geschäft zurückgezogen und sich nur noch seiner Kunsthalle in Emden gewidmet. G+J-Vorstandsvorsitzender Gerd Schulte-Hillen - über dessen Schreibtisch das Tagebuch-Geschäft abgewickelt wurde - sitzt noch heute auf diesem Sessel. Legendär ist ein Satz von stern-Reporter Jürgen Petschull: "Henri Nannen ist ein großer Mann, der von kleinen Leuten, die das große Geld haben, kleingekriegt worden ist." So gesehen, wurde eine Zäsur nicht durch den Weggang Nannens, sondern durch die "Hitler"-Tagebücher eingeleitet. In der Nachbereitung des Skandals begehrten die Redakteurinnen und Redakteure noch einmal auf. Über mehrere Tage war die Redaktion besetzt: Peter Scholl-Latour und Johannes Gross sollten als Chefredakteure verhindert werden. Betriebs- und Redaktionsversammlungen tagten ständig. Höhepunkt war eine Solidaritätsveranstaltung im Hamburger Audimax mit 2 000 Menschen. Gross wurde abgewehrt und kommentierte dies im FAZ-Magazin vom 20. Mai 1983 so: "Gegen alle Pessimisten: Wir sind eine echte Demokratie geworden. Das Gesindel darf nicht nur überall mitreden, es führt das große Wort." Scholl-Latour wurde neben Rolf Gillhausen in die Chefredaktion berufen. In der Folgezeit versuchten sich Rolf Schmidt-Holz, Rolf Winter, Heiner Bremer, Michael Jürgs und viele andere als Chefredakteur. Seit 1994 steuert Funk den stern. Große Geschichten, über die die Republik redet, haben mittlerweile Seltenheitswert. Zwei ziemlich dünne und peinliche Hefte sorgten 1997 für Aufsehen: Ein Pärchen mit der Sprechblase "Zu dir oder zu mir" zierte den Titel von Nummer 30. Über neun Seiten erstreckte sich eine im Bravo-Stil gehaltene Fotogeschichte über One-Night-Stands. Statt Bildunterschriften gab es Sprechblasen wie "Hechel, hechel" oder "Ächz!!! Stöhn ...racker!!!" und beim Griff zum Kondom "Ob eins wohl reicht ...?" Das war witzig gemeint, ging aber beim stern gewaltig daneben.

Ebenso das Heft 34: Die Schauspielerin Jenny Elvers liegt in einer mit Stacheldraht umzäunten Badewanne - Thema "So lacht Deutschland". Die Leserinnen und Leser konnten testen, ob sie Schweinigel oder Scherzkekse sein wollten. Damit näherte sich der stern der Machart von Blättern an, die angeblich nur beim Friseur gelesen werden. Dagegen leistete man sich im August 1997 eine "Sternstunde der Pressefreiheit", wie der Branchendienst Kress-Report anmerkte: Im Beitrag "Zur Kasse, Schätzchen" entwirrte Frank Thomsen die Verflechtung zwischen Kirch und Bertelsmann - G+J gehört zum Gütersloher Medienkonzern - im Segment Digitales Fernsehen. Erinnerungen werden wach: 1977 hatte der stern die Geschichte "Öund morgen die ganze Welt" gedruckt. Penibel wurde aufgeführt, wie und wo die Reichen ihr Geld anlegen. Aufgeführt war auch Reinhard Mohn vom Bertelsmann-Vorstand. "Die Primitivität setzt sich fort", soll er gegiftet haben. Auf seine Veranlassung hin wurde der amtierende Chefredakteur Manfred Bissinger entlassen.

Nebenbei betätigte sich der stern als Kanzlersucher: Dem "schnellsten Denker der Union" Wolfgang Schäuble wird in Heft 3/1997 das Titelthema gewidmet und der Satz "Ein Krüppel als Kanzler? Ja, die Frage muß man sich stellen" in den Mund gelegt. Schäuble wurde als "Nebenkanzler und Strippenzieher von Helmut Kohl" dargestellt. Der Versuch, Schäuble aufs Schild zu heben, schlug fehl. Drei Monate später wurde getitelt: "Treten Sie an, Herr Schröder". Und im Frühjahr dieses Jahres war Gerhard Schröder auf einem stern-Titel als Steuermann mit "Kurs auf Bonn" zu besichtigen. Zwischendurch (29/1997) wurde Volker Rühe zum "Krisenmanager" und "Mann nach Kohl".

Dazwischen immer wieder Geschichten, die Spekulationen über eine große Koalition nähren sollten. Bündnis 90 / Die Grünen werden mit Häme bedacht und von rechts demontiert. Auf eine substantielle Kritik dagegen wird verzichtet. Auch darin drückt sich die Angst des Mittelstands vor dem Absturz aus. So wie sich die Grünen neu formiert haben, hat sich auch der stern neu formiert: Jetzt wird Stimmung gegen "Sozialschmarotzer" (36/1997) und Schwarzarbeiter (24/1997) gemacht. Den Kontrapunkt setzt die Gründerinitiative StartUp (40/1997) in Zusammenarbeit mit Sparkassen und der Unternehmensberatungsfirma McKinsey. Für Funk ist das die neue "Liberalität" des stern, weil sich die "Links-Rechts-Kategorien" aufgelöst hätten. Der "Gründerwettbewerb" paßt zu Herzogs Ruck-Zuck-Rede und zur Konzernpolitik von Bertelsmann. So entschieden sich der stern früher auch gegen Mehrheitsmeinungen wandte, so konsequent bewegt er sich heute im Mainstream. Im Zeitalter des "gedruckten Fernsehens" bedient auch der stern die Zap-Gewohnheiten des Publikums. "Ein Musikdampfer im seichten Gewässer der Medienlandschaft", hieß es dazu im kürzlich in der ARD ausgestrahlten Sendung "Sternstunden" von Klaus Goldinger. Das Blatt ist beliebiger und stromlinienförmiger geworden. Dazu paßt die Geschichte "Deutschlands TV-Ladies über Männer, Sex und Leidenschaft" im Heft 25/1998. Wenn Verona Feldbusch, Birgit Schrowange, Bärbel Schäfer und Frauke Ludowig als "starke Frauen" bezeichnet werden, drückt das nur aus, daß "erfolgreich" nicht wirklich etwas mit Qualität zu tun hat.

Ab Mitte der achtziger Jahre mußte der stern als "aktuelles Wochenmagazin seinen eigenen, zeitgemäßen Weg finden", sagt stern-Sprecher Kurt Otto. Zur Begründung beruft man sich auf eine "veränderte Medienlandschaft". In der Redaktion ist derzeit wohl niemand bereit dagegenzuhalten. Das Binnenklima soll so schlecht sein, daß sich niemand wagt, die Blattpolitik zu kritisieren. Werner Funk wird ein autokratischer Führungsstil nachgesagt. Neben dem Posten des Chefredakteurs füllt er auch noch die Funktion des Verlagsgeschäftsführers aus. Frei nach Nannen wird sich Funk beim Blick in den Spiegel sagen: Was schert mich die Moral - Hauptsache die Bilanz stimmt.