46. Eine der letzten Bastionen des Adels

Fortgesetzte Erählungen

1980 war es nicht. 1980 versuchte Onkel Willi, zum jüdischen Glauben zu konvertieren. Von morgens bis abends übte er "Höre, Israel!", und Tante Lioba drohte, ihn aus dem Schlafzimmer zu schmeißen, wenn er sich beschneiden ließe.

Die damals noch rentable Schweinemast wurde abgeschafft, es gab keinen Schwartenmagen mehr, am Samstag war sogar das Reiten verboten, und irgendwie hatte alles den Anschein, als gehörte auch Onkel Willis mystische Krise zu den jüdischen Welteroberungsplänen, denn damals sprach sich erstmals rum, daß er die Latifundien seiner Ahnen ruiniert hatte.

Zum Glück beschloß die Landesrabbiner-Konferenz, ihn weiter in seinem christlichen Irrglauben schmoren zu lassen. So einfach, vermute ich mal, wollten sie es einem Horwitz nicht machen, seine Schuldgefühle loszuwerden. Dem mußte reichen die Gnade der späten Geburt.

1981 kann es auch nicht gewesen sein. 1981 holte Onkel Willi die antisemitischen Schwarten seiner Vorfahren wieder vom Speicher - die Protokolle der Weisen von Zion, Richard Wagners Schrift gegen das Judentum in der Musik -, es gab immer noch keinen Schwartenmagen, weil wir keine Schweine mehr hatten, und mein Ziehvater begann, Stammbäume zu malen.

Inneren Auftrieb verlieh ihm sein Vorname Willibald (von ahd.: willjo, der Kühne), und auf dem Heidenstein auf der Ritterslay wurde zu seinem Geburtstag am 7. 7. ein ausgewachsener Feldhase geschlachtet (das heilige Tier der Schamanen und Medizinmänner).

Tante Lioba schimpfte: "So hat es in Sodom und Gomorrha auch angefangen. Ich will nicht als Salzsäule enden." Sie begann, Geld und Wertsachen beiseitezuschaffen und goß Wasser in Großvaters Jagdwaffen, damit sie schneller rosteten, falls Onkel Willi ganz ausrasten sollte.

Nein, es muß 1982 gewesen sein, an einem blaßblauen, glühendheißen Vormittag. Von unten stanken die Mülltonnen, der warme Wind trug hauchfeinen Sand durchs offene Fenster, und meine Mutter hockte am Küchentisch. Sie hatte eine Fliegenklatsche in der Hand und war depri, aber ich wußte, eine verrückte Idee würde ausreichen, um sie in einen Irrwisch zu verwandeln, eine pausenlos redende Nervensäge.

"Das ist Prolo", sagte sie und deutete mit dem spitzen Kinn auf einen Fettsack, der eine kurze Schlabberhose trug. Prolo hielt mir eine Hand hin, die aussah wie ein Schweinehalskotelett und sagte grollend: "Grüßgottle."

Meine Mutter ist so ein Mensch, der die Geschirrspülmaschine nicht einräumt, weil sie noch nicht ausgeräumt ist, und einen Wutanfall kriegt, wenn man mit dem Abwasch klappert, statt sich von ihr endlich mal sagen zu lassen, was Modder für ein Scheißkerl war, oder ihre Mutter Cosima, ihr Bruder Willibald etc.

"Was ist, Tita?" sagte ich mitfühlend und schüttete mir etwas O-Saft ein, der noch nie einen Kühlschrank von innen gesehen hatte, was mich aber nicht störte. Ich war gerade vierzehn, starb vor Langeweile in einem Kaff, wo die Bürgersteige mit dem Küchenmesser saubergekratzt wurden und hielt Titas Lebensstil für eine passable Alternative. Ihr Küchenfußboden war so eingesaut, daß man kleben blieb, wenn man zu lange an einer Stelle stand, was meiner Motorik sehr entgegenkam.

"Fluppen sind alle", sagte Mutter, als ginge es darum, die Diktatur der Bourgeoisie zu zerschlagen und zerschlug eine dicke Fliege.

"Jetzetle!" rief ihr Lebenspartner, dessen Sinn darin bestand, daß er einfach nur dasaß und "Jetzetle" rief oder "Ha noi!" Er war mindestens fünfzehn Jahre jünger als sie, aber doppelt so alt. Die Stadt war voller Apathiker, die den Sinn des Lebens darin sahen, in Berlin zu leben. Sie verwesten in Hinterhöfen und weigerten sich, weiter zu gehen als bis ins nächste Kaufhaus, weil sie aus Meßkirch oder Korbach stammten und glaubten, das Wesentliche an einer Großstadt seien die Rolltreppen. "Soll ich welche holen?" fragte ich munter, in der Hoffnung auf ein kühles Eis. "Wenn du Geld hast", sagte meine Mutter.

Sie war Anfang vierzig, hatte schon zweimal gesessen, einmal wegen Fluchthilfe, und einmal hatte Modder sie irgendwo auf dem Balkan besucht, ich glaube in Skopje, wo sie saß, weil sie angeblich zu einer gemeingefährlichen politischen Gruppe gehörte, die polizeilich gesucht wurde, und man sah ihr an, daß sie irgendwie nicht die Kurve gekriegt hatte. Sie war zu mager, trug ein verschlissenes Unterhemd mit Spaghettiträgern, und ihre Brust war schlaff und eingefallen. Aber ihre Hakennase war so scharf wie ein Geierschnabel.

Jetzt lebte sie also mit einem dicken Schwaben, der als Möbelpacker jobbte, in einem Zimmer in einem besetzten Haus und war depri, weil sie beim Aufwachen versehentlich daran gedacht hatte, daß heute der 12. August war. An dem Tag war sie, wie sich herausstellte, das erste Mal mit meinem Vater ins Bett gegangen, und dieses Ereignis vor 21 Jahren rührte sie noch immer zu Tränen.

Prolo stand auf und sagte "Sodele". Dann ging er, und er ähnelte jetzt wirklich einem der Südaffen, im Urmenschmuseum bei Marbach am Neckar, wo wir mal auf Klassenfahrt waren. Meine Mutter stand ebenfalls auf, schaute in den Kühlschrank und sagte: "Schredda, Schredda, da muß was passieren."

An sich heiße ich Hedda. Den Spitznamen verdanke ich meiner frühkindlichen Gewohnheit, jedes Buch und jede Zeitschrift klitzeklein zu reißen. Es gab aber auch viel Papierkram zu schreddern in der Berliner Wohnung meiner Eltern gegen Ende der sechziger Jahre.

Sie geriet in Bewegung, wühlte in einer Schublade, rief triumphierend: "Aha, da bist du ja" und streifte sich eine Art Wollmütze über den Kopf mit den Stoppelhaaren. Die Mütze bedeckte das ganze Gesicht, hatte aber Öffnungen für Augen, Mund und Nase.

"Bin gleich wieder da!" rief sie euphorisch, "setz' schon mal Kaffeewasser auf, ich gehe nur rasch was einkaufen" und verschwand. Sie sang laut "Io son'un uomo sincero da donde cresce la palma", als sie die Treppe runtersprang.

Nach einer halben Stunde war sie wieder da, und sie brachte alles mit, was man für ein ordentliches Frühstück brauchte. "Das ist Leben im alten Stil", sagte sie überschwenglich. "Deine Vorfahren, Liebchen, haben auch nie gearbeitet. Was sie brauchten, haben sie sich genommen." Wir lebten dann eine Woche mit Gänseleberpastete, Dom Perignon und Miracoli, bis eines Morgens zwei Polizisten in der Tür standen. "Frau Modjewski?" fragten sie tiefernst. Tita nickte klamm und wedelte mir hinter ihrem Rücken zu zu verschwinden. "Ist das ihre Tochter?" - "Ich habe keine Familie", sagte sie kühl. "Was ist, kann ich mir ein paar Sachen einpacken?"

Zehn Minuten später waren sie weg. Prolo sagte: "Heidenei, do verrecksch!", als er vom Möbeltragen zurückkam. Anderntags stand in der Zeitung, daß sie zugegeben hätte, einen Bankangestellten mit einer Spielzeugpistole bedroht und 3 950 Mark erbeutet zu haben. "Wie geht's deiner Mutter?", fragte Onkel Willi, als ich wieder in Hofacker stand. "Ich weiß nicht, die ist verhaftet." Tante Lioba hatte einen bitteren Zug um den Mund, als sie sagte: "Eine schöne Familie, in die ich da eingeheiratet habe." Nur Oma Cosima nahm mich in Schutz: "Noch ein Wort", bellte sie ihre Schwiegertochter an, "und du bist entlassen."

Sie saß in der Eingangshalle im Rollstuhl, eine Wolldecke auf den Beinen und winkte mich mit knochigen Fingern zu sich: "Egal, was deine Mutter tut", flüsterte sie mit rauchiger Stimme, "sie bleibt immer eine Horwitz. Die da", und sie zeigte auf Lioba, "hätte früher bei uns höchstens die Kartoffeln ausgemacht." Damit konnte sie mir auch nicht mehr imponieren. Es war die Zeit, in der Willi und Lioba mein Zimmer von außen abschlossen, weil sie fürchteten, ich könnte abhauen, doch für den Fall hatte ich vorgesorgt. Ich wartete, bis mir ein paar hundert Mark in die Hände fielen, holte die kleine Axt hinter dem Bett hervor, zerschlug eine Türfüllung, öffnete mit dem Schlüssel, der außen steckte, und nächsten Abend war ich wieder in Kreuzberg.

"Ha, no?" sagte Titas Liebhaber. "Was isch jetzt des?" "Verpiß dich, Prolo", sagte ich freundlich, schubste ihn beiseite und legte mich schlafen. Das Bett roch säuerlich. Es war der Geruch meiner Mutter. Sie war erstaunlich gut drauf, als ich sie anderntags im Knast besuchte. "Mach dir keine Sorgen, Schredda", sagte sie lächelnd, "der Knast ist eine der letzten Bastionen des Adels. Du brauchst dich um nichts zu kümmern, hast einen Haufen Bewacher, und bei den Frauen hast du einen Stein im Brett, wenn sie hören, daß du adlig bist."

Ich beschloß, trotzdem nicht mehr nach Hofacker zu fahren, und der Schwabe war als Ziehvater auch nicht so übel. Nie brauchte ich Kohlen zu tragen.

Nächste Woche: "Picasso macht einen Ami fertig"