Deutschland geht in Stellung

Während sich die USA die Option einer Verhandlungslösung für den Kosovo offenhalten, drängt Außenminister Kinkel auf einen schnellen Militäreinsatz

"Wir können nicht länger von einem Konflikt sprechen. Wir müssen von Krieg sprechen." Es war Albaniens Außenminister Paskal Milo, der die Kämpfe in der serbischen Unruheprovinz Kosovo letzten Mittwoch als erster auf eine neue Stufe hob und dies mit der Flucht von mehr als 10 000 Kosovo-Albanern in den Nordosten Albaniens begründete.

Die Zahlen scheinen ihm recht zu geben: Mehr als 50 000 Menschen, so das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) Mitte vergangener Woche, seien aus ihren Herkunftsorten im Südwesten Serbiens geflohen.

Nicht durch Zahlen belegt ist jedoch der Vorwurf, den Milo seiner Beurteilung der Lage anfügte - und den seit Beginn des Konflikts auch Ibrahim Rugova, der international nie anerkannte Präsident der Kosovo-Albaner, Verhandlungsführer bei den Gesprächen mit Belgrad und Träger des roten Seidenschals am Halse, vorzubringen nicht müde wird: Das Regime von Jugoslawiens Präsident Slobodan Milosevic, verkündete Milo in Tirana, begehe "Völkermord an den Albanern im Kosovo". Belege dafür hatte er nicht. Und auch seine Prophezeiung, daß die seit Anfang März eskalierende Krise im Kosovo "das Ausmaß des Krieges in Bosnien noch übersteigen" könne, machte noch keinen Genozid.

So kamen bei den Gefechten zwischen Kämpfern der separatistischen Befreiungsbewegung Kosova (UCK) und serbischen Polizeieinheiten in der letzten Woche zwar weitere 60 Menschen ums Leben, womit die Gesamtzahl der Toten in den letzten drei Monaten auf über 250 Tote stieg.

Von dpa ohne Quellenangabe verbreitete Berichte des Informationszentrums der Albaner-Führung in Pristina jedoch, wonach "etwa 20 000 Albaner im Gebiet um Decani von der serbischen Polizei eingekesselt" seien, wurden weder von der im Kosovo vertretenen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), dem UNHCR noch von jugoslawischen Stellen bestätigt. Darüber hinaus berichtete die Neue Zürcher Zeitung, daß in der zu 90 Prozent von Albanern besiedelten Provinz auch Angehörige der serbischen Bevölkerungsminderheit von Vertreibungen betroffen waren. Zweifel an den Angaben der Demokratischen Liga für den Kosovo (LDK), der Partei Rugovas, wonach Einheiten der Jugoslawischen Bundesarmee in der Provinz im Einsatz seien, hegte selbst ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums.

Keinen Zweifel wiederum gibt es daran, daß die serbischen Polizeieinheiten ihre Angriffe in der letzten Woche verschärft haben. Das gibt auch die Regierung in Belgrad offen zu - beruft sich dabei freilich auf den "Terrorismus der UCK-Rebellen" und auf die Notwendigkeit, den Waffenschmuggel und den Übertritt der Freischärler über die jugoslawisch-albanische Grenze zu bekämpfen. Dabei kann sie sich auf die UCK verlassen, die am vergangenen Wochenende in einem Appell in der Zeitung Koha Ditore "alle Männer im Alter zwischen 18 und 55 Jahren zu den Waffen" aufrief.

Nach der Niederlage seines Gefolgsmanns Momir Bulatovic bei den Parlamentswahlen in Montenegro (Jungle World, Nr. 23/98) und dem damit verbundenen Machtverlust auch in den jugoslawischen Bundesgremien scheint Milosevic nun zu versuchen, seine Kontrolle über den Kosovo zu festigen - auf Kosten der Zivilbevölkerung: Neben den annähernd 40 000 Flüchtlingen, die sich noch immer außerhalb ihrer Wohnorte im Kosovo aufhalten, flohen weitere 7 000 Menschen aus dem Kosovo nach Montenegro und rund 500 ins Nachbarland Mazedonien.

Als ob er in Bonn nur auf den Völkermord-Vorwurf gewartet hätte, griff Außenminister Klaus Kinkel die Forderungen nach Nato-Truppen aus Albanien und dem Kosovo begierig auf. Nur einen Tag, nachdem der albanische Regierungschef Fatos Nano im Rahmen des Nato-Programms "Partnerschaft für den Frieden" Hilfe erbeten hatte, reagierte Kinkel als erstes westliches Regierungsmitglied willig auf das albanische Drängen und rief die Nato-Partner forsch auf, "sehr zügig über ein militärisches Vorgehen zu entscheiden".

Zunächst, skizzierte Kinkel bei einem Treffen der EU-Außenminister in Palermo die deutschen Einsatzpläne, solle die Nato lediglich Truppen nach Albanien und Mazedonien entsenden, um die Grenzen zum Kosovo zu sichern. Sollte sich die Lage weiter zuspitzen, müßte die Allianz aber auch nach Wegen suchen, im Kosovo selbst einzugreifen, stellte Stratege Kinkel bald auch die bisherige Verhandlungsstrategie der EU in Frage. Und wohl schon im Vorgriff auf ein denkbares Veto Moskaus im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen lud Kinkel russische Truppen zum militärischen Ausflug auf den Balkan ein: "Wenn die Nato nach Albanien und Mazedonien reingeht, sollte auch Rußland mit dabei sein."

Die USA reagierten auf Kinkels Vormarsch äußerst zurückhaltend. James Rubin, Sprecher des Pentagons, sagte, daß es zu früh sei, um über eine militärische Option zu sprechen - diese sei weder vorbereitet, noch gebe es dafür es eine eindeutige politische Konzeption. Die beste Lösung sei weiterhin eine diplomatische, weshalb die USA am Dialog zwischen Milosevic und Rugova über eine weitgehende Autonomie für den Kosovo festhielten. Mit der Ausweitung der Kämpfe auf den Süden der Provinz, die Grenzregion zu Mazedonien, verstärkte am Wochenende jedoch auch die Clinton-Administration ihren Druck auf Milosevic. Neben der Androhung neuer Wirtschaftssanktion wollten sie nun auch den Einsatz militärischer Mittel nicht länger ausschließen.

Diese innenpolitisch durchzusetzen, dürfte Clinton zumindest schwerfallen. Denn erst nach langem Zögern hatte sich die republikanische Kongreßmehrheit dazu bereit erklärt, dem Verbleib von 8 500 US-Soldaten in Bosnien zuzustimmen. Gegen die Entsendung weiterer Truppen in die Region gibt es Vorbehalte. Nach Berechnungen von Nato-Militärs würden allein für einen Grenzsicherungseinsatz zwischen 7 000 und 20 000 weitere Soldaten benötigt.

Auch die europäischen Verbündeten hielten sich mit Reaktionen auf die Kinkel-Forderung merklich zurück. Aus dem Kreis der EU-Staaten in der Bosnien-Kontaktgruppe signalisierte nur Großbritanniens Regierungschef Tony Blair - verhaltene - Unterstützung für die zügige Planung eines Nato-Einsatzes. Italien und Frankreich verwiesen lediglich auf das Treffen der Sechsstaaten-Gruppe.

So wie der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher Ende 1991 die Anerkennung Kroatiens ohne Absprache mit EG und Uno quasi im Alleingang betrieb, kümmert sich nun auch Kinkel wenig um das von der Bundesregierung vielbeschworene "abgestimmte Vorgehen mit unseren Verbündeten". Mit der Begründung, daß die BRD keine weiteren Kosovo-Flüchtlinge aufnehmen könne, hat sich Bonn bereits in den letzten Monaten in Nato, EU und der Kontaktgruppe energisch für eine "regionale Lösung" engagiert. Im Klartext: Geflüchtete Kosovo-Albaner sollen in den Nachbarstaaten bleiben und nicht nach Mittel- und Nordeuropa weiterreisen.

Doch politische Vertreter dieser Nachbarstaaten, allen voran Albanien, wollen die ihnen zugedachte Rolle in den deutschen Balkan-Planungen nicht einnehmen. So teilte bei Sondierungsgesprächen in Tirana Außenminister Milo Kinkels politischem Direktor im Auswärtigen Amt, Wolfgang Ischinger, mit, daß sein Land höchstens 20 000 Flüchtlinge verkraften könne - eine Zahl, die spätestens Mitte Juni erreicht sein dürfte. Danach müßte sich die Bundesregierung auf neue Flüchtlinge einstellen. Was beiden Seiten ins Konzept paßte.

Albanien kann mit dem Szenario eines neuen Flüchtlingsstromes in Richtung Europa den politischen Druck erhöhen und somit Kinkel ein Argument zuspielen, das dieser benötigt, um auch noch die letzten Zauderer von einem raschen Militäreinsatz zu überzeugen.

Konflikte bei den in dieser Woche stattfindenden Tagungen der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel und der Bosnien-Kontaktgruppe in London sind somit programmiert: Bonn setze nun verstärkt auf den Einsatz von Nato-Truppen, schrieb International Herald Tribune bereits am letzten Samstag - "auch aus Verärgerung über den Kurs der USA", die weiter für eine Verhandlungslösung zwischen Rugova und Milosevic optierten. Und Deutschland wird verstanden. Neben der albanischen Regierung, die sich aus einem Nato-Engagement ökonomische Vorteile verspricht, sieht sich auch die Führung der Kosovo-Albaner in ihrem Sezessionismus bestätigt: Am vergangenen Wochenende sagte die Delegation von Rugova die Autonomie-Gespräche mit serbischen Regierungsvertretern erneut ab.