Die »Logik des Klassenkampfs«

Das französische Gesetz gegen sozialen Ausschluß: Kein Mindesteinkommen, sondern "Eingliederung in den Arbeitsmarkt"

Was tun, wenn - wie in Frankreich - soziale Bewegungen dauernd Ärger machen? Der Reformismus sucht sie ruhigzustellen, und in der Regel via Gesetz. Am 20. Mai hat dementsprechend die Pariser Nationalversammlung das "Gesetz gegen den sozialen Ausschluß" in erster Lesung angenommen. Es soll die Folgen der wachsenden Verarmung auf verschiedenen Ebenen bekämpfen. Die Linksparteien stimmten für den Gesetzentwurf, während die liberal-konservative UDF sich weitgehend enthielt und der gaullistische RPR dagegen votierte. Dessen Parlamentarier monierten einerseits, der Text kopiere Gesetzesvorschläge der konservativen Vorgängerregierung Juppé und schmücke sich durch dieses "Plagiat" mit fremden Federn; andererseits witterten sie darin eine "Logik des Klassenkampfs".

Der Vorläufertext unter dem Kabinett Juppé hatte freilich nicht einmal die Bezeichung Sozialpolitik verdient - mit vorgesehenen Ausgaben in Höhe von drei Milliarden Francs (0,9 Milliarden Mark) über einen Zeitraum von fünf Jahren. Ein wenig ernster scheint man es heute doch zu meinen: Auf 51 Milliarden Francs (15 Milliarden Mark) für einen Zeitraum von drei Jahren werden aktuell die Ausgaben veranschlagt. Das ist großzügig gerechnet. Zieht man die Kosten ab, die bereits bezahlt oder durch Umschichtung anderswo vorgesehener Mittel gedeckt werden, verbleiben nach Schätzungen der Tageszeitung Le Monde nur noch Neuausgaben in Höhe von umgerechnet 6,5 Milliarden Mark.

Im März hatte es das Kabinett eilig gehabt, den Gesetzesvorschlag zu verabschieden - als offizielle Antwort auf die Arbeitslosenproteste im vergangenen Dezember und Januar. Deren Träger und Initiatoren wie die Basisbewegung AC! ("Gemeinsam handeln gegen die Erwerbslosigkeit") sind jedoch keineswegs zufriedengestellt. Insbesondere kritisieren sie die Abwesenheit jeglicher struktureller Veränderungen. So ist keine Rede von einem garantierten und von Erwerbsarbeit unabhängigen Grundeinkommen. Und auch eine Ausdehnung des Sozialhilfeanspruchs (RMI, umgerechnet rund 650 Mark im Monat) auf die 18- bis 25jährigen, die kein Recht auf die Stütze haben, ist nicht erfolgt.

Statt dessen steht im Mittelpunkt des neuen gesetzlichen Arsenals weiterhin die Idee, den Betroffenen "bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu helfen". Insofern wird an der Illusion einer irgendwie zu erreichenden Vollbeschäftigung festgehalten. So sieht das Gesetz ein neues Programm unter dem Titel "Trace" (die Abkürzung steht für "Startbahn des Zugangs zur Beschäftigung") vor, das 60 000 Jugendliche in 18 Monaten durch einen Cocktail von Ausbildung, Praktikum und Arbeit für den Eintritt ins Erwerbsleben fit machen soll. Und danach? Für viele wird der Arbeitsmarkt auch dann verschlossen bleiben, insbesondere für die Immigrantenjugendlichen.

Ansonsten verspricht das Kapitel "Beschäftigung" des neuen Gesetzes, die "Solidaritäts-Arbeitsverträge" (CES) sollten künftig "zu 75 Prozent ihrem eigentlichen Zielpublikum zugutekommen". Diese staatlich unterstützten Arbeitsverträge zu prekären Bedingungen (befristete Jobs, Teilzeitstellen usw.), auf die auch staatliche Behörden auf Gebieten wichtiger Verwaltungstätigkeiten häufig zurückgreifen, sollen demnach in erster Linie mit Langzeiterwerbslosen, jungen Arbeitslosen ohne jegliche Erwerbsbiographie und Berufserfahrung oder Behinderten abgeschlossen werden. Das Versprechen, sie auf "die bedürftigen Personen" zu konzentrieren, beweist nur, wie weitverbreitet bisher ihr "Mißbrauch" war, um - unter dem Vorwand der Hilfe für "Bedürftige" - prekäre Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Kaum besser sieht es bei der anvisierten Garantie eines gesicherten Wohnraums aus. Zahlungsunfähige Mieter sollen zwar künftig mehr Schutz gegen die Räumung ihrer Wohnung genießen. So soll der "Solidaritätsfonds Wohnung" (FSL) ihnen bei Zahlungsschwierigkeiten verstärkt unter die Arme greifen, und der Präfekt als Vertreter des Staates ist im Fall einer laufenden Räumungsklage verpflichtet, den FSL einzuschalten. Doch der FSL wird ausschließlich aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung finanziert, so daß erhöhte Ausgaben für finanzschwache Mieter andernorts bei den Hilfen für Erwerbslose wieder fehlen; die Selbsthilfeorganisation DAL ("Recht auf Wohnraum") fordert ein "sichtbares finanzielles Engagement des Staates". Schließlich wird auf Wohnungen, die in großstädtischen Ballungsräumen seit mindestens zwei Jahren leer stehen, eine Fehlbelegungsabgabe (zehn Prozent des Werts im ersten Jahr, dann 12,5 und im dritten Jahr 15 Prozent) eingeführt.

Die Regierung wollte zunächst auch den Zugang zum Gesundheitssystem erleichtern. Rund 2,3 Millionen Personen sind nach Schätzungen derzeit vom Gesundheitssystem ausgeschlossen. Wegen der "Schwierigkeit der Materie", so die offizielle Begründung, soll dazu demnächst ein eigenes Gesetz erarbeitet werden.

Zumindest aber sollen die Verelendungsprozesse genauer erforscht werden: Zur Untersuchung der Armuts- und Reichtumsentwicklung soll eine Einrichtung ähnlich dem vor 1993 bestehenden CERC (Zentrum für das Studium der Einkommen und Kosten) errichtet werden. Das CERC, das jährlich kritische Berichte über die sozialen Entwicklungen vorlegte, war 1993 vom konservativen Premierminister Balladur aufgelöst und durch das regierungsabhängige, gänzlich uneffektive Gremium CSERC ersetzt worden, das keine Forschungen aus eigener Initiative mehr unternehmen darf. Das alte CERC erklärte sich zu einem unabhängigen Verein und machte weiter. Anstatt das CERC wieder anzuerkennen, will die Regierung nunmehr - der Tageszeitung Libération zufolge - eine Art Mittelding zwischen dem alten CERC und Balladurs CSERC gründen.