Breit und brecht

Das Brecht-Archiv in Berlin unternimmt "22 Versuche, eine Arbeit zu beschreiben"

Wie hältst du es mit Brecht? Es scheint, als wäre dies, nun erst recht zu seinem 100. Geburtstag, die Frage, an der sich Freund und Feind und der Klassenstandpunkt sowieso offenbaren. "Wo nichts am rechten Platz liegt, da ist Unordnung. Wo am rechten Platz nichts liegt, ist Ordnung." (Flüchtlingsgespräche, 1940/41)

Sowohl die Kommunistenfresser wie die Genossen haben den ganzen Bertolt Brecht nie wirklich ertragen. Die Akademie der Künste in Berlin wendet sich in der Ausstellung "Öund mein Werk ist der Abgesang des Jahrtausends" von der Ideologie ab und dem Original zu, Untertitel: "22 Versuche, eine Arbeit zu beschreiben". Exemplarische Werke und Gegenstände sollen die Stationen einer beispiellosen Intellektuellen-Biographie rekonstruieren, die quer durch alle Strömungen des 20. Jahrhunderts führt und überall ihre Spuren hinterläßt. Brecht wird vor allem als ungemein emsiger Arbeiter präsentiert, der wie am Fließband produziert hat, wo auch immmer er sich aufhielt, vielseitig in allen Genres, besessen über stets neue Projekte gebeugt oder die alten weiterentwickelnd. Und da Brecht auch Theatertheorien konzipiert und Theaterstücke geschrieben hat, wurde als Ausstellungsraum eine Probebühne simuliert. Über Lautsprecher meckert Brecht die Moritat von Mackie Messer aus seiner "Dreigroschenoper": "Und der Haifisch, der hat Zähne."

Fundus der Ausstellung ist der Nachlaß aus dem Bertolt-Brecht-Archiv, den das Land Berlin 1992 gekauft hat. Die Kuratoren haben ihre Ausstellung in 22 Themenkomplexen arrangiert. Alles, was Brecht zeitlebends beschäftigt hat, von den Einzelwissenschaften über Politik, Ökonomie, Marxismus, Religion bis zu Musik, Bildender Kunst, Architektur. Und natürlich das "Plagiat als Kunst": "ein wenig borgen bei einem oder einigen andern zeigt bescheidenheit; welch eine ungeselligkeit, sich ganz allein vorwärts bewegen zu wollen!" (vermutlich 1938).

Mit dem Anspruch, Brecht nicht als Säulenheiligen, sondern als kritischen, irrenden, stets zweifelnden, politisch reflektierenden Künstler vorzuführen, ist eine Fülle von Material ausgebreitet. Es stellt jedoch nur ein Prozent des gesammelten Nachlasses dar. Ausgangspunkt ist das Abgebrochene, das Gescheiterte, so Erdmut Wizisla, Leiter des Brecht-Archivs und Mentor der Ausstellung. Doch wie sich dann bei genauerer Betrachtung herausstellt, ist zwar Tiefe versprochen, aber bloß Breite realisiert. Von allem ein bißchen, von nichts besonders viel: So wird statt eines lebendigen work in progress nur wieder edle Einfalt, stille Größe etabliert.

Meistens sehen die reservierten Beobachter genauer hin als die radikalen Fans. György Konr‡d, Präsident der Akademie der Künste, kann Brecht nicht recht leiden. Im Katalog schreibt er: "Nach seinem hundertsten Geburtstag verwandelt sich der große Künstler in ein Monstrum. Hinausgehend über die Kategorien von Gut und Böse, erblicken wir in ihm eher schon eine - ultramoralische - Naturerscheinung. Brecht lesen können wir heute auch so, daß wir unsere eigene Weltanschauung (...), ob wir mit dem Gelesenen einverstanden sind oder nicht, an der Garderobe abgeben."

Die Ausstellung kümmert sich um solche Überlegungen nicht. Dem mittlerweile gut erforschten Werk und Leben Brechts vermag sie nur wenige verborgen gebliebene Aspekte abzugewinnen. Natürlich wäre es lohnend gewesen, wie angekündigt, "das Werk dieses Jahrhundertautors auf seinen Materialwert und seine Aktualität hin zu prüfen". Gerade dem Nachlaß-Archiv müßte es möglich sein, durch Textvergleiche en détail zu zeigen, wie sich Brechts Denken und Schreiben, die Themenwahl und die Blickwinkel verändert haben. Statt dessen begnügt man sich überwiegend mit einfachen Blättern, die meist geringe Bearbeitungsspuren tragen. "Leben des Galilei" ist zwar in der Rubrik Naturwissenschaft thematisiert, doch bleiben die unterschiedlichen Versionen Nebensache. Dafür sind Zeitungsausschnitte über Albert Einstein ausgelegt, sowie ein Briefumschlag, auf dem sich Brecht (um 1955) den Buchtitel "Die Zukunft hat schon begonnen" von Robert Jungk notiert hat. Ja, Herrschaften, wer hätte gedacht, daß Brecht auch Zeitung las und sich durchaus eine ihn interessierende Meldung auszuschneiden vermochte? Und dazu noch gelegentlich ein Buch studierte, wenn er Material für ein Stück sammelte? Ein paar weitere informative Prozente aus dem Nachlaß hätten dem Unternehmen wahrlich gut getan.

Denn hinter der Eindimensionalität verschwindet das Individuum Brecht. Ein zeitloser, außerirdischer Klassiker scheint wohlgemut die Werke per Schreibmaschine serienweise geliefert zu haben. Wenig ist über die politischen Balanceakte in der DDR zu erfahren, die ihn "Lebenslust, Genialität, den schöpferischen Schwung" (Konr‡d) kosteten und kaum noch Neues schreiben ließen. Brecht hatte seit seiner Rückkehr aus den USA einen österreichischen Paß. Er starb mit 56 Jahren früh. Neher ging nach Westdeutschland, Weill blieb im Exil in den USA, Dessau versteckte die Zeugnisse seiner jüdischen Vergangenheit, und Eisler soff sich durch.

Doch auch am öffentlichen Bild des primus inter pares einer großen glücklichen Familie wird festgehalten und fraglos die früh begonnene Selbststilisierung von Brecht & Co. übernommen. So erscheinen die internen Spannungen und die Konflikte in der Arbeitspyramide bestenfalls milde verklärt. Unterwürfig bittet zum Beispiel Hanns Eisler 1950 den in der Musik gerne dilettierenden Meister: "Lieber Brecht könntest Du diese doch nicht sehr klare musikalische Anweisung weglassen?" Denn die allerhöchste Forderung behindert ihn bei der Vertonung des heroischen Versepos' "Die Erziehung der Hirse". Später komponierte Paul Dessau die Musik.

Die Blicke in die Werkstatt, das "Laboratorium Vielseitigkeit" (Walter Benjamin) des Brecht-Kollektivs sind halbherzig. Natürlich sind zahlreiche kostbare Exponate zu sehen, wovon einige zum erstenmal präsentiert werden, wie die Stichworte zu einem Notizbuch über Kassandra ("die weise, wishful thinking zu vermeiden") samt Filmplan ("der tag ihres triumphes ist der tag ihres untergangs", beides um 1940). Der Entwurf eines Kriminalromans, "Tatsachenreihe", zusammen mit Walter Benjamin (um 1933). In seinem rechtschreibreformierten "Alafabet" heißt es zum A: "Adolf Hitler, dem sein Bart / ist von ganz besondrer Art. / Kinder, da ist etwas faul, / Ein so kleiner Bart und so ein grosses Maul.", und zum E: "Die Dichter und Denker / holt in Deutschland der Henker / Scheinen Mond und Sonne nicht / Ist die Kerze das einzige Licht."

Eine meterlange Fotowand zeigt Brecht offiziell und privat, mit diversen Frauen und Nachkommen, beim Zigarrerauchen, wie er aus dem Parkett seines Theaters die Proben überwacht, mit Helene Weigel den 1. Mai feiert.

Auf einen Nenner zu bringen ist er nicht. Zum Glück. "Eine gierige und produktive Seele, nirgendwo langweilig", nennt ihn Konr‡d. Und Brecht: "Ich möchte gern eine Kunst machen, die die tiefsten und wichtigsten Dinge berührt und tausend Jahre geht: sie soll nicht so ernst sein."

"Ö und mein Werk ist der Abgesang des Jahrtausends" 22 Versuche, eine Arbeit zu beschreiben. Ausstellung zum 100. Geburtstag von Bertolt Brecht. Bis 29. März. Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Berlin