Wie wird man Bürgerrechtler?

Gefährliche Orte XVI: Im Gemeindesaal der Friedrichshainer Samariterkirche ließ der Spiegel über die Bedeutung der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988 diskutieren

Wie man zu den Bürgerrechtlern kommt, an einem Samstagnachmittag in Berlin beispielsweise, ist recht leicht zu erklären: U-Bahn-Station Samariterstraße aussteigen, dann in die Samariterstraße einbiegen, in Richtung Samariterplatz an der Samariterkirche vorbei zum Ziel, dem Gemeindesaal der Samaritergemeinde Berlin-Friedrichshain, gehen.

Hätt' man sich ja denken können.

Was erwartet einen bei den Bürgerrechtlern? Neun prominente Bürgerrechtler unterhalten sich, moderiert von einem Spiegel-Redakteur und eingeleitet von einem Mitarbeiter der Gauck-Behörde, darüber, wie die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration vor genau zehn Jahren, am 17. Januar 1988 in Ost-Berlin, zu bewerten ist. "Das vorletzte Gefecht" ist die Veranstaltung überschrieben, abends gibt es noch mal eine, die heißt "Wem gehört die Bürgerbewegung?"

Bei der Nachmittagsveranstaltung, etwa 150 Interessierte füllen den Gemeindesaal ziemlich dicke, sind am Ende des Raums Tische und Stühle für die Diskutanten aufgebaut.

Es sind: Rainer Eppelmann, "dessen Name überall mit Samariter verbunden wird" (Moderator Ulrich Schwarz vom Spiegel), Vera Lengsfeld, die eine dreiviertel Stunde zu spät kommt, nur den letzten Satz des Einführungsvortrags hört, aber gleich heftig applaudiert,

- Stephan Krawczyk, der sagt, heute, 1998, wäre er lieber im Bett geblieben, als zu dieser Demonstration zu gehen,

- Roland Jahn, von dem unklar bleibt, ob er als gebürtiger Jenenser eher Bürgerrechtler oder als SFB-Redakteur eher Hilfsmoderator der Veranstaltung ist,

- Ulrich Schwarz, der bei der Moderation den ganz außen sitzenden Reinhard Weißhuhn fast vergißt,

- Wolfgang Templin, der mitteilt, daß der Januar 1988 für ihn klar gezeigt habe, daß man die DDR stürzen muß und sie nicht verbessern kann,

- Ralf Hirsch, der seine damalige Ausreise als Fehler ansieht,

- Reinhard Schult, der als einziger auf dem Podium noch einen Bart trägt und bis heute der Meinung ist, daß die Aktion 1988, nämlich selbstgemalte Transparente mit einem Rosa-Luxemburg-Zitat, das nach divergierenden Aussagen in der Pressemappe mal "Freiheit ist immer nur Freiheit des Andersdenkenden", "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden", "Freiheit ist stets die Freiheit des Andersdenkenden" und "Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden" lautet, daß diese Aktion also eine "abenteuerliche Aktion" war, die "kein agent provocateur hätte besser organisieren können",

- Klaus Wolfram, der früher mal die Wochenzeitung die andere herausgab und von Frau Lengsfeld gleich angegriffen wird, er habe auf diesem Podium nichts zu suchen, weil er nicht bei der Demo dabei gewesen sei, und außerdem habe er Reinhard Schult ferngesteuert, und

- Reinhard Weißhuhn, der etwa anderthalb Stunden von Moderator Schwarz übersehen wird.

Das ist also das Podium, und im Publikum sitzen noch so schwerprominente Bürgerrechtler wie Wolfgang Thierse, Angelika Barbe, Günter Nooke oder Ehrhart Neubert.

Wie aber wird man Bürgerrechtler? Auch das ist einfach. Ich zum Beispiel habe mich, um früher gehen zu können, am Rand des Saales auf ein Fensterbrett gehockt. Dort sind auch allerlei Lautsprecher aufgebaut, und ein junger Mann fragt mich gleich: "Bleibste hier sitzen?" Ich bejahe, und er fordert mich auf: "Da kannste auf die Box uffpassen!" Ich gucke wohl etwas verwirrt, doch er erklärt mir sofort, mein Job sei es aufzupassen, daß die nicht umfallen, "die sind nämlich nur geliehen". Auf einmal bin ich ehrenamtlicher Helfer der Samaritergemeinde. So wird man Bürgerrechtler.

Trotz des großen Podiums hat man schnell ein Thema gefunden: Reinhard Schult sorgt dafür, indem er bis heute bei seiner Kritik der, wie er meint, ausreisewilligen Liebknecht-Luxemburg-Demonstranten bleibt, die er 1988 in einem Artikel des Friedrichsfelder Feuermelder formulierte. Die DDR-Bürgerrechtsbewegung, schrieb er damals, sei "gewogen und zu leicht befunden" worden. Klaus Wolfram, der an dem Artikel mitformulierte und auch von seiner damaligen Meinung nicht lassen möchte, ergänzt, die im Gefolge der Demonstration verhafteten Bürgerrechtler seien "als politische Personen in den Knast" und als "Privatpersonen heraus" gekommen. Wen er meint, sind die, die nach wenigen Tagen Haft die DDR in Richtung Westen verließen: Freya Klier und Stephan Krawzcyk etwa, die, als sie in Bielefeld angekommen waren, schriftlich forderten, zurückkehren zu dürfen, "um unsere Arbeit als Künstler dieses Landes" fortzusetzen. Oder Vera Lengsfeld, damals noch Wollenberger, und Bärbel Bohley, die Auslandsstipendien erhielten. Oder Ralf Hirsch, der nach seiner Ankunft in Westberlin Berater von Walter Momper wurde.

Die Angegriffenen antworten unterschiedlich. Ralf Hirsch hält es heute für einen Fehler, damals ausgereist zu sein. Was Wolfgang Templin meint, habe ich trotz aufmerksamen Zuhörens nicht verstanden. Irgendwie, scheint mir, hätte er es politisch schon sinnvoller gefunden zu bleiben, aber die Ausreise sei "eine private Entscheidung für die Kinder" gewesen, und spätestens hier - für diesen Satz gab es sogar Beifall - bleibt mir unklar, was Templin sagen wollte. Vera Lengsfeld spricht von "Irrationalismen", die man nicht verstehen könne: Das sei schon eine Abschiebung gewesen, als sie 1988 ein einjähriges England-Stipendium erhielt, aber ihr sei klar, daß das kaum jemand so sehen könne.

Die einen beharren also darauf, vor zehn Jahren hätte man bleiben sollen, die anderen sagen, wahlweise, ja, es wäre vielleicht besser gewesen zu bleiben oder nein, es war für die Kinder richtiger zu gehen, oder nein, nein, das Recht auszureisen und wiederzukommen muß doch jeder haben (worauf die einen erwidern, die Forderung nach dem Recht zu reisen, hätten sie ja auch geteilt, ihnen gehe es ja nur um die politische Bewertung und sei es nur um diese gegangen), und alle zusammen sprechen über ein Thema das einem gar so fremd ist.

A propos fremd. Da ist ja noch Stephan Krawczyk, der immer wieder darauf beharrt, kein politischer Mensch zu sein, sondern ein Künstler, der immer wieder Diskutanten ob ihrer "unmenschlichen Sprache" angreift, der einmal sogar ganz laut wird und brüllt: "Wir haben für unsere Kunst gekämpft, das ist heute nicht mehr üblich", der sich also ganz und gar als Ästhet präsentieren will, aber zu Beginn der Veranstaltung solche Sätze formuliert: "Ich habe damals gesagt, mir ist meine Frau wichtiger, als Kopf einer Bewegung zu sein", und dem, ganz der Pseudoästhet, weder bei Kopf noch bei Bewegung etwas auffällt, und der dann noch sagt, er habe die DDR-Vergangenheit hinter sich gelassen, denn er wolle sich "nicht hingeben wie Onkel Alfred dem Zweiten Weltkrieg", wobei ihm, dem mutigen Anprangerer von irgendwelcher "unmenschlicher Sprache" schon wieder nichts auffällt. Der ist also auch noch da.

Ich gestehe: Die Relevanz dieser Diskussion hat sich mir auch bei zeitweise wohlwollendem Zuhören nicht erschlossen. Ich kann auch nicht behaupten, eine der dort sprechenden Parteien habe wohl recht, dafür war mir alles zu wirr und zu fremd. Doch ich muß auch gestehen, daß, wenn die Welt voller Bürgerrechtler wäre, eine zugegeben schlimme Vorstellung, mir dann doch die Herren Schult und Wolfram am sympathischsten wären.

Ob sich die Art, wie man sich in Bürgerrechtlerkreisen unterhält, seit 1988 sehr verändert hat, weiß ich nicht, aber ich glaube es nicht. Mein Indiz ist ein kleiner Hinweis, den ich einer in der Pressemappe abgedruckten Stasi-Akte entnahm. Dort wird von einer Solidaritätsveranstaltung für Vera Wollenberger, heute Lengsfeld, berichtet: "Wollenberger, Knud, bat darum, daß geschlossen das Lieblingslied seiner Frau 'Das weiche Wasser bricht den Stein' gesungen wird, was mehr oder weniger ein Fiasko wurde, da keiner den Text kannte."

Das war 1988. Zehn Jahre später aber ist die Lautsprecherbox im Gemeindesaal der Samaritergemeinde nicht umgefallen.