Recht gesprochen

Amtsgericht Tiergarten, Vorwurf: Beleidigung. "Ihr Ossis, ihr seid ja Volkspolizei. Das ist ja wie im Osten", soll der 55jährige Wolfgang P. zum 36jährigen Polizisten Jörg H. gesagt haben.

Ein warmer Freitag im August 1997: P. sitzt mit seiner Freizeitfußballmannschaft in der Gaststätte "Zum hungrigen Wolf" in Moabit, Bugenhagenstraße 2. Die Hobbytruppe hat hier jede Woche eine feste Runde. Draußen beginnen Jörg P. und sein Kollege, Knöllchen zu verteilen. Die Sportler buhen durchs offene Fenster. Die Beamten führen eine Personenkontrolle durch - es gibt Ärger. Zur Unterstützung fordern sie drei weitere Funkstreifen an.

Richter: "Fühlten Sie sich durch 'Ossi' beleidigt?"

Jörg H.: "Ich bin zwar aus dem Osten, aber woher wollten die das wissen?"

Verteidiger: "Früher hat man 'Ossi' auch zu Ostfriesen gesagt."

Staatsanwältin: "Und wenn er 'Wessi' gesagt hätte?"

Richter: "Es handelt sich hier um eine Beleidigung. Worte können unterschiedliche Bedeutungen haben. Es kommt auf die Umstände an."

Wolfgang P. muß 2 000 Mark zahlen. Seine Freunde vom Stammtisch im "Hungrigen Wolf" sagen: "Da legen wir alle zusammen."

Es kommt auf die Verhältnisse an, hat der Richter gesagt. Wer fühlte sich nicht angegriffen, wenn er wegen seiner Herkunft beschimpft wird, bloß weil er seiner Arbeit nachgeht?

Das Wort "Ossi" begann seine Karriere mit der Wiedervereinigung. Es wird als Selbstbezeichnung verwendet ("doofer Ossi"), um für sich einen Minderheitenstatus gegenüber einer als übermächtig angesehenen westlichen Mehrheit zu reklamieren. Von Westdeutschen wird es verwendet, um den Ostdeutschen als Minderbemittelten ("doofer Ossi") zu kennzeichnen. Und da gilt das Wort von Max Frisch: "Man hat Polizisten gerufen, und es kommen die Menschen. Sie arbeiten, und zwar in der Fremde, weil sie in ihrem eigenen Land zur Zeit auf keinen grünen Zweig kommen."

Jungle World schließt sich der Meinung des Tiergartener Amtsgerichts an. Was aber wäre gewesen, die Spekulation mag erlaubt sein, wenn Wolfgang P. "Ihr Arschlöcher" gerufen hätte? Das Ergebnis wäre aus drei zweckbezogenen Gründen anders ausgefallen. Jörg H.s bewußtseinsphilosophische Frage - "(...) Aber woher wollten die...?" - wäre genauso unbeantwortet geblieben. Es hätte mit Sicherheit beleidigendere Wirkung gehabt, wobei es zu deren Feststellung keines Ausflugs in die Welt semantischer Ambivalenzen bedurft hätte. Und die Kumpels vom "Hungrigen Wolf" hätten ihrer Solidarität mit P. größeren Ausdruck verleihen können - mit einem größeren Haufen zusammengelegten Geldes. Allerdings ohne den schlimmen Beigeschmack der Ethnisierung des Sozialen.