Massaker und Militarisierung

Die mexikanische Opposition fordert die Absetzung der PRI-Regierung in Chiapas

Das Massaker von Acteal zeitigt schnellen Erfolg - geht man vom Interesse der mexikanischen Regierung aus. Rund 5 000 Soldaten wurden nach offiziellen Angaben seit dem 22. Dezember nach Chiapas mobilisiert, die regierungsunabhängige Kommission CONAI spricht sogar von 6 000 Militärs, die allein aus den nahegelegenen Regionen Campeche und Tabasco herangezogen wurden. 209 fest installierte Polizei- und Militärsperren halten den südlichsten Bundesstaat Mexikos unter Kontrolle. Zwar wurde der Massenmord von paramilitärischen Gruppen verübt, dennoch tauchen die Truppen der Nationalpolizei Seguridad Publica und des Militärs Ejercito National vor allem bei den Opfern in Los Altos, der Bergregion nahe San Crist-bal de las Casas, und der Selva, dem lacandonischen Urwald, auf - in jenen Gebieten also, in denen das Ejercito Zapatista de Liberacion Nacional (EZLN) über eine starke Basis verfügt.

Dabei will man doch, wie der mexikanische Innenminister Emilio Chuayffet vor seinem Rücktritt am vergangenen Wochenende in schöner Regelmäßigkeit betonte, die Bevölkerung vor weiteren gewaltsamen Übergriffen schützen und soziale Aufgaben übernehmen. So durfte auch der regierungstreue chiapanekische Rundfunk zum Jahresende, mehr als eine Woche nach dem Massaker, verkünden, man habe im Bezirk Chenalho bereits einige Häuserfassaden gestrichen, Haare geschnitten und 35 Tuben Zahnpasta verteilt. Bei den Flüchtlingen im zapatistischen Lager Polho stieß diese staatliche Großzügigkeit auf wenig Gegenliebe: "Wir wollen keine Hilfe von denen, die uns bedrängen, unterdrücken und die Paramilitärs protegieren."

Tatsächlich steht außer Frage, daß der Terrorangriff vom 22. Dezember eine von maßgeblichen Mitgliedern der mexikanischen Regierungspartei PRI mit vorbereitete Aktion war. So schrieb die linke Tageszeitung La Jornada: "In Chiapas herrscht Krieg, und es gibt wohl kaum eine ausführlicher geplante Handlung als diese." Selbst der Vorsitzende der Generalstaatsanwaltschaft, Jorge Madrazo Cuellar, sprach unmittelbar nach dem Überfall von einem durchorganisierten Überfall mit zentraler Leitung. Einige Tage später wußte der oberste Strafverfolger plötzlich Gegenteiliges zu berichten. Es habe sich lediglich "interkommunitäre" und "interfamiliäre" Konflikte gehandelt, "die im Kontext eines dauerhaften Streits um die politische und ökonomische Macht" in Chenalho stünden. Diese internen Streitigkeiten seien erst aufgekommen, erklärte Madrazo, nachdem Anhänger der EZLN im April 1996 eine autonome Parallelregierung in der Region aufgebaut hätten.

Daß weder der priistische Bürgermeister vor Ort noch der chiapanekische Gouverneur Julio Cesar Ruiz Perro und die ohnehin angeschlagene PRI-Regierung in Mexiko-Stadt Interesse an dem politischen Stützpunkt der Guerilla hat, ist naheliegend. Die zahlreichen Indizien dafür, daß das Massaker auf mehreren Ebenen der PRI gedeckt bzw. organisiert wurde, können also nicht überraschen. Denn ebenso unbestritten wie die Beteiligung des mittlerweile verhafteten Bürgermeisters von Chenalho, Jacinto Arias Cruz, an der Vorbereitung des Massakers ist das Bemühen von Polizei und Innenministerium, die Paramilitärs ungestört agieren zu lassen. Kräfte der Seguridad Publica wurden gegen zwölf Uhr - ungefähr sechzig Minuten nach Beginn des mehrstündigen Überfalls in Chenalho - vor Ort gesehen. Sie griffen nicht ein, sondern ließen dem Terror der "Mascaras Rojas", der Roten Masken, freien Lauf.

Etwa zur gleichen Zeit wiesen drei Tzotzil-Indianer die Seguridad Publica auf die Schießerei hin und wurden daraufhin festgenommen. Kurz zuvor war bei der Diözese von San Cristobal ein Anruf aus Polho mit der Nachricht über den Angriff eingegangen, die mit der Bitte um Rückruf auch sofort an den Innenminister von Chiapas, Homero Tovilla Cristiani, weitergeleitet wurde. Erst gegen sieben Uhr abends meldete sich das Ministerium in der Diözese, um mitzuteilen, daß in Acteal alles ruhig sei. Außer vier oder fünf Schüssen sei nichts gewesen. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits die ersten Verletzten in die Krankenhäuser San Cristobals eingeliefert. Auch in der folgenden Nacht konnten sich die Paramilitärs auf staatlichen Schutz verlassen. So fanden die Plünderungen der Häuser unter Beobachtung der zur Bewachung eingeteilten Polizeikräfte statt.

Nicht nur die EZLN und die ihr politisch nahestehende Frente Zapatista de Liberac'on Nacional (FZLN), auch alle oppositionellen Parteien Mexikos fordern nun politische Konsequenzen. Die linke Sammelpartei PRD sieht die Verantwortung direkt bei der Regierung. "Das Massaker von Chenalho ist kein Einzelfall", so die PRD in einer Erklärung. Die paramilitärischen Gruppen seien "vollständig identifiziert und bereits seit längerem den verantwortlichen Behörden bekannt gegeben worden" - ohne Konsequenzen. Die PRD fordert den Rückzug des Militärs aus Chiapas, die Entwaffnung der Paramilitärs sowie die sofortige Absetzung der chiapanekischen Regierung. In einer gemeinsamen Erklärung mit der rechtskatholischen PAN sowie den ursprünglich von der PRI als Scheinopposition aufgebauten Parteien PVEM und PT werden Angehörige der Regierung als materielle und intellektuelle Täter ausgemacht. Den "Regierenden und Mächtigen des Landes" werfen sie vor, sie würden "die paramilitärischen Banden organisieren und bewaffnen, um das Tor zum Krieg offen zu halten".

Tatsächlich entspricht das Massaker von Acteal dem bisherigen Vorgehen der PRI-Bundesregierung unter Präsident Ernesto Zedillo gegen die EZLN. Seit langem spricht der Regierungschef öffentlich über sein vermeintliches Interesse an einer politischen Lösung - und organisiert die militärische. Bereits während der Friedensverhandlungen von San Andrés führten die Paramilitärs den schmutzigen Krieg sozusagen als taktische Begleitmusik, sind sie doch im Gegensatz zu den offiziellen militärischen Einheiten niemandem offiziell verpflichtet und können als eigenständige Kraft dargestellt werden. Genauso will sich auch jetzt wieder die Regierung als jene vermittelnde Institution profilieren, die im Interesse des Friedens in Chiapas zwischen zwei bewaffneten Banden - den Paramilitärs und der EZLN - handelt. So konnte Präsident Zedillo in einer Ansprache an die Nation die Gewalt verurteilen und eine bedingungslose Aufklärung der Verbrechen fordern. In diesem Sinne ist es auch naheliegend, wenn Generalstaatsanwalt Madrazo von "interkommunitären" Problemen spricht. Und ebenso folgerichtig wirkte die Forderung der Regierung, eine Beilegung des Konfliktes in Chiapas könne dann erreicht werden, wenn die EZLN ihre Waffen abgebe - was ihr die schwere Aufgabe, den zapatistischen Widerstand in einer endgültigen Offensive auszurotten, sehr erleichtern würde.

Ein deutliches Zeichen hierfür sind auch Erklärungen des neuen Innenministers. Er bezeichnete die von der mexikanischen Regierung unterzeichneten Abmachungen von San Andrés, die Mindestgarantien für die indigene Bevölkerung enthalten, als "Vorschläge". Pacta sunt servanda? Selbstverständlich, aber nur, wenn sie der Staatsräson dienen, was hier offensichtlich nicht der Fall ist. In einem Kommuniqué des Generalkommandos der EZLN vom 3. Januar heißt es: "Die letzte Information, die wir (am 3. Januar) erhalten haben, war, daß eine motorisierte Einheit und eine bewaffnete Spezialeinheit der Bundesarmee abgesetzt wurden und damit begannen, auf La Realidad vorzurücken, die Umgebung der Gemeinde zu durchkämmen, indigene Bauern festnahmen und folterten, die sie auf ihrem Vormarsch trafen. Die Aufgegriffenen und Gefolterten fragten sie, wo sich Marcos aufhalte, sie hätten Befehl vom Präsidenten, ihn tot oder lebendig zu ergreifen." Das Militär dementiert dies. Die Jagd auf die Zapatisten ist eröffnet.