Hartes Leben

Gefährliche Orte XIV: Am Kreuzberger Chamissoplatz fühlt man sich von türkischen Jugendlichen um seine "Kiezkultur" gebracht

"Kiez", schreibt mein Duden, der noch vor der Rechtschreibreform erschienen ist, stehe umgangssprachlich für Prostituiertenviertel. Das weiß da, wo ich wohne, im überall nur so genannten Chamissokiez nämlich, keiner.

Denn dort, im Chamissokiez zu Berlin-Kreuzberg, wollen alle den Kiez retten, was nicht etwa heißt, Demonstrationen gegen das Puffsterben zu organisieren, sondern dieses: "Seit über zwei Jahren schickaniere", gibt der Lokalteil der taz mit gewagter Diktion die Sorgen der Anwohner wieder, "eine Bande von türkischen Jugendlichen den Kiez um Bergmannstraße und Chamissoplatz."

Wenn Einwohner mit taz-Abo sich bedroht fühlen, ist das eine Sache für den Lokalteil, zumal, wenn man dort die Ursachen kennt. Eine lieber nicht erwähnt werden wollende Mieterberaterin wird dort zustimmend zitiert, die "glaubt, daß auch die Wohnungspolitik schuld an den Problemen sei. Wohnten vor 15 Jahren teilweise bis zu zehn türkische Personen in einer Eineinhalbzimmerwohnung, gingen mit den mit der Sanierung des Viertels verbundenen Haushaltsteilungen teilweise ganze Häuser in türkische Hand über. Eine soziale Mischung sei dadurch nicht mehr gewährleistet."

Zu große Wohnungen für türkische Großfamilien also, bei denen die jugendlichen Kinder sogar freien Auslauf haben.

Das darf schon deswegen nicht sein, weil der Chamissoplatz den Angehörigen gehört. Glauben die jedenfalls. 1980 drehte Rudolf Thomé den Film "Berlin Chamissoplatz", und damit fing alles an. "This film is a love story set in the politically charged atmosphere of Kreuzberg, Berlin (West), in the late seventies", erfährt man über den Film, wenn man ihn sich im New Yorker Goethe-Institut anschauen möchte. "From two different worlds, an established architect and a young student meet at a street festival in connection with the restoration of old apartment buildings and subsequently fall in love. As their relationship becomes more complicated, political events fade in the background."

Was 1980 noch nur Kitsch war, Hausbesetzerin verliebt sich in Stadtplaner, und das Politische verschwindet, haben die Bewohner mittlerweile verinnerlicht. "Mal ruhiger, mal aufmüpfiger, wird mit trotziger Lebenslust gegen manch unheilvolle Aspekte opponiert und das Ghettobewußtsein mehr und mehr überwunden", dichten die Werbetexter vom Kreuzberger Bezirksamt und kommen gleich auf das Problem zu sprechen: "Die Integration der Türken ist soweit vollzogen, wie es überhaupt möglich ist. Die speziellen Lebensäußerungen der Ausländer prägen das Viertel ebenso wie die, trotz vieler interessanter, teilweise Aufsehen erregender Neubauten, immer noch deutlich sichtbare Altberliner Großstadtstruktur mit ihren trostlosen oder aufpolierten Jahrhundertwendefassaden und Hinterhöfen."

Da lebe ich also, und das schon seit über zehn Jahren. Ausländer geben Lebensäußerungen von sich, und mit trotziger Lebenslust wird opponiert, daß die trostlose Jahrhundertwendefassade nur so wackelt.

Zu diesen Phänomenen gehört beispielsweise das alljährliche Chamissoplatz-Fest, wo sich von besoffenen Punks bis zu beflissenen Sozialdemokraten alles einfindet, was einen Kiez erst kiezig macht. Wie schön so ein Fest ist, kann man in dem Film von Rudolf Thomé auch begucken, und vor allem die Kneipen machen einen anständigen Umsatz dabei.

Da ist der "Heidelberger Krug", der schon seit jeher eine richtige Sozialdemokratenkneipe war und in dem früher des öfteren Walter Momper - das ist der mit Schal, der nicht Peter Staisch heißt - gesichtet wurde. Dann gibt es noch seit kurzem die "Haifischbar", die in der zweiten Reihe parkende Nobelkarossen anzieht und wo Sushis verkauft werden. Früher war da mal eine Szenekneipe namens "Schlemihl" drin, zwischendurch ein Bistro, aber ins neue Kreuzberg paßt die "Haifischbar" allemal besser. Zum Platz gehört auch die "Weinstube Hans Huckebein", die im Internet von einer Bamberger Studentenverbindung gelobt wird: "Wirt ist selbst korporiert."

Was man nicht mehr findet, sind die Kneipen für Sozialhilfeempfänger. Das war früher das "Dada", aus dem nun die portugiesische Cocktailbar "Fogo" geworden ist, der "Ambrosius" Nostiz-/ Ecke Bergmannstraße, in dem nun ein Tex-Mex-Laden ist und der "Simpel", der zuletzt in der Arndtstraße residierte, wo jetzt nichts mehr ist.

An den Kneipen merkt man, wie sich die Gegend, die Kiez genannt wird, verändert hat. Man merkt es auch am wöchentlichen Ökomarkt, den es seit wenigen Jahren erst gibt. Da werden selbstgemachte Bürsten und schlecht, also gesund ausschauendes Gemüse angeboten, und die Klientel kauft bereitwillig. Und man merkt es an dem renovierten Männerklo, das so lustig "Café Achteck" gerufen wird. Das steht schon seit Ewigkeiten da, war nur etwas verwittert und stank ganz schrecklich. Ein Unternehmer aus Baden-Württemberg, von der Berliner Zeitung zum "ungekrönten Toilettenkönig Berlins" ernannt, hat das Stahlgebilde für 250 000 Mark renovieren lassen, was ihm die Genehmigung einbrachte, an anderen Plätzen Berlins seine gebührenpflichtigen City-Toiletten aufzustellen.

Die Fassaden glänzen, das Männerklo auch, die Kneipen sind jetzt Bars, und die Bewohner, die früher noch Studenten waren, sind nun ein bißchen reicher geworden. Grün wählen sie immer noch, und die taz lesen sie auch immer noch, und da notieren sie mit Genugtuung, daß nun die Türken frech werden, weil sei in zu großen Wohnungen leben. Ganz anders als früher. Da hauste in der großen Wohnung noch die WG und in der kleinen die zehnköpfige türkische Familie.

Die taz-Berichte über das harte Leben im Chamissokiez, von dessen Härte ich so gar nichts mitbekommen hatte, brachte mich sogar dazu, mir mal den Polizeibericht vorzunehmen. Wenn ich nichts übersehen habe, geschah am Chamissoplatz in den letzten fünf Jahren lediglich ein Gewaltverbrechen: 1995 wurde ein 45jähriger taubstummer Mann aus Neukölln von einem anderen 45jährigen niedergestochen und schwer verletzt.

Nach dem traurigen Befund, daß hier noch nicht mal kriminell was los ist und das bißchen Kriminalität, das hier herrscht, so ganz ohne Türken passiert, wäre dieser Betroffenenbericht - wo Autoren so leben - eigentlich schon zu Ende, drohten nicht der Gegend rund um den Chamissoplatz ganz andere Gefahren.

Die Prominenz zieht ein. Wenn man nicht aufpaßt, steht ein Pro-Sieben-Liebe-Sünde-Macher hinter einem in der Supermarktschlange, ein Filmschauspieler rempelt einen auf dem Ökomarkt an, ein Sportschau-Moderator kauft einem in der Markthalle das letzte Stück Rindfleisch vor der Nase weg, eine Tatort-Kommissarin spaziert so langsam und breitbeinig über den Bürgersteig, daß man kaum überholen kann, und wenn es ganz arg kommt, steht im Computerladen ein früherer Grünen-Politiker, der jetzt für die SPD versucht, einen Usedomer Landrat zu mimen.

Die Reichen und (mit einer Ausnahme) Schönen also sind es, die glauben, die Türken belegten zu große Wohnungen. Und wenn mal wieder ein Puff schließt, merken die gar nicht, daß ein Stück Kiezkultur gestorben ist.