Talk Talk

Die Rocktheorie wurde erfunden: Jean-Martin Büttners "Sänger, Songs und triebhafte Rede"

Zwei Bonmots stellt der Autor Jean-Martin Büttner seiner 675-Seiten-Dissertation "Sänger, Songs und triebhafte Rede" voran. Das eine lautet: "If you dance, you might understand the words better" und stammt von David Byrne. Das andere ist von Steve Martin überliefert: "Talking about music is like dancing about architecture." Der sei aber Komiker und habe deswegen auch gut lachen.

Büttner offensichtlich nicht. Sein Thema ist ja auch "Rock als Erzählweise". Und er hat zuallererst für seinen Professor an der Universität Zürich geschrieben. Darum setzt er des Komikers These auch ins Diskursive fort. Martin "hätte auch sagen können, über Musik schreiben sei wie nach einem Buch zu singen". Eine bahnbrechende Analyse für einen 43jährigen Studenten, der tagsüber für den Zürcher Tagesanzeiger korrespondiert.

Nun soll ja das im Pop-Lesezirkel hinlänglich bekannte Voranstellen

von Zitaten Assoziationen auslösen. Wie haben die das gemeint, der David Byrne und der Steve Martin. Das muß doch was bedeuten. Und um den Dingen auf diesen Grund zu gehen, bemühe man die Psychoanalyse. "Der Psychoanalytiker lauscht der triebhaften Rede, der Rock'n'Roller bedient sich ihrer." Aber halt: Hier noch eine Vorbemerkung über den Universitätsbetrieb in toto. Büttner beklagt den zu geringen Akademisierungsgrad von Rock, obwohl der "weltweit jährlich 30 Milliarden umsetzt". Nur wenige Institute in Europa verfügten "über die notwendigen Fans und Fachleute" zur artgerechten Analyse der "Rockmusik". Das sind laut Büttner die Stolpersteine auf dem Weg des Rock'n'Roll hinein in die organisierte Realität. Eine weitere Einsicht: "Über Rockmusik zu schreiben hat etwas Lächerliches."

Oder - als Doktorarbeit - was Putziges. Wenn Büttner Rock schreibt, meint er wohl Pop: Es dürfte aber herzlich egal sein, ob die Uni Zürich einen Rock-Professor hat oder nicht.

Es sei denn, man steht mit sich selbst auf dem Kriegsfuß. "Wissenschaftliches Schreiben über Rock" sei nicht leicht, zum Beispiel tue sich die Literaturwissenschaft "schwer, weil Rocktexte als Gedichte nicht funktionieren, überhaupt weil sie vulgär sind". Zur Ehrenrettung der Zunft sei nebenbei bemerkt, daß sie, als Mediävistik, alle Vers-Epen des Mittelalters als Gesangsform untersucht: Man nimmt an, daß die langen Gedichte nur rhythmisch vorgetragen werden konnten. Von solchen Einwänden hätte sich Büttner wohl nicht beeinflussen lassen. "Rock impliziert mehr als Musik", nämlich "Trivial-, Sub- und Jugendkultur, Geschäft" etc. blubbert es durch die Seiten. Umso liebenswürdiger ist, daß Büttner aber auch nicht eine einzige originäre Idee liefert.

Herausgekommen sei "die psychoanalytisch gefärbte Interpretation einer oral tradierten, medial verbreiteten Erzählweise zuhanden eines Literaturinstituts: Im Ansatz wissenschaftlich, im Thematischen populär, in der Bearbeitung journalistisch." Genau der Stil, der sich seit Jahrzehnten seinem Gegenstand anverwandelt. Die Methode: Eklektizismus. Sobald man irgendein Ergebnis vermutet, wartet Büttner mit einem David-Bowie-Satz, einer Pete-Townshend-Bemerkung oder einem Greil-Marcus-Schluß auf. Wenn's ganz schlimm kommt, wird Deleuze zitiert - Frauen hat's nicht so viele -, und auch hier ist also die fünfte Kolonne unterwegs, denn wer Popkritik ˆ la Deleuze goutieren will, mag sich an die richtigen Poplinken wenden, die es auch schon schlimm genug treiben.

"Die Arbeit hält ein Plädoyer für populäre Kultur, vertritt aber, oft genug, elitäre Positionen" - ja, aber braucht die das? Als gäbe es kein MTV, als würde jetzt der Popjournalismus neu erfunden werden müssen. Nun gut, dieses Buch aus dem klugen Hause Stroemfeld wird seine Leser finden. Eine ganze Reihe Schreiber stürzt sich ja zur Zeit auf Pop-Phänomene, die wohl vor kurzem das erste Mal auf einem Rave waren, und deshalb ein Lektüre-, schlimmer noch: ein Schreibdefizit haben.

Output der psychoanalytischen Verfahrensweise: John Lydon? "Ein singender spuckender Epileptiker, ein schreiender Dilettant". Nirvana? "Die Musik liess Erregung und Ruhe ineinanderlaufen, sie machte einen Lärm, der alle Lügen übertönen wollte" - vielleicht hätte man sie leiser drehen sollen.

Alle Wissenschaft ist auch Metaphysik, und das heißt: Bauklötze staunen. Zum Beispiel darüber, daß Nirvana wieder so schnell weg waren! Aber vorher hatten sie wenigstens Erfolg, das hat Kurt Cobain so erklärt: "Wir machen nichts anderes als Popmusik mit verzerrten Gitarren, im Zeitlupentempo heruntergespielt" - da kommt die Psychoanalyse ins Spiel: "Die Scheidung seiner Eltern stürzte den Neunjährigen in eine Krise, die er später mit Drogen und Musik therapierte." Übrigens: "Kurt Cobain ist gestorben für den Rock'n'Roll". Aber auch dafür gibt es eine Erklärung, wenn auch keine psychoanalytische: Heute gehe es eben immer schneller, bis eine Gruppe, ein Stil, eine Platte an die Spitze komme. Oder: "Es dauert immer weniger lang, bis eine Gruppe erschöpft, ein Stil veraltet, eine Platte vergessen ist." Immer dies, immer das. Das erkläre doch mal bitte einer den Rolling Stones. Aber die kommen woanders zu Wort, nämlich im Kapitel Techno.

Ziel allen Rock'n'Rolls sei Ekstase, schreibt Büttner, der DJ habe als Musikmaschinist den realen Musiker abgeschafft. Auch hier Staunen: "Macht die eine Diskothek zu, macht die andere auf"! Rockschreibe ist Übercodierung. Wenn Ralf Hütter von Kraftwerk zitiert wird, "das Ziel ist doch, sich die Musik nur noch ausdenken zu müssen", kann die Antwort nur lauten: "So kann nur reden, wer souverän über die Metaebenen verfügt, auf die seine Konzepte verweisen." Oder wer einfach weiß, wie das, was er zusammengelötet hat, funktioniert.

Leider sei Techno so aussagelos. "Let the beat control your body", heiße ein Stück von 2Unlimited, und es "klingt genau so wie es heisst". Zeit für Keith Richards: Techno, meint der, sei "Rock ohne Roll". Alte Kämpen abfragen, die sich gewohnt nörglerisch zur jüngeren Musikgeschichte äußern - auch das nichts Neues. Zu der Floskel "immer mehr" gesellt sich übrigens auch gern das "schon": "Schon Diedrich Diedrichsen hat als sicherstes Anzeichen einer neuen Musik die Klage geortet, bei ihr töne alles gleich." Techno sei aber keine Musik, sondern "industrieller Lärm" - als sei Rock nie elektrifiziert gewesen. Puristisch, kulturpessimistisch, ganz der anakademisierte Autor. Techno sei "tatsächlich die Musik der Gegenwart, als die sie seine Betreiber verstehen. Die Fragmentierung, die Virtualisierung, die Mechanisierung der Gesellschaft hat ihren pausenlosen Soundtrack erhalten."

Oder vielleicht global digital. Hier werden auf allen Ebenen falsche Bilder gebraucht resp. übernommen, die dann chaostheoretisch miteinander zu tun haben sollen. Büttners Buch steht in der Tradition jener Rockisten-Schwatzhaftigkeit, präsentiert als Kritik, die langweilig wie verwirrend ist oder im besten Fall lustig daneben wie letztens Günther Amendts Bob-Dylan-Artikel in konkret. Das Dilemma der Autoren: Sie wären auch gern hippe Musiker. Dazu gesellt sich dann erfrischende Unaktualität oder auch Unwissenheit. Die Avantgarde der deutschen Schreiber ist laut Büttner beim viel gelobten Magazin Spex zu finden; "Diedrichsen, Nieswandt, Jacob und Drechsler." Deren Einigkeit besteht aber schon seit 1994 nicht mehr.

Der Schlußsatz: "So kommt man immer wieder bei sich an, je länger man unterwegs ist. Im Traum. Im Leben. Im Rock'n'Roll. Thank you, good night." A tribute to all Rockschwätzer, in einer Reihe: Peter Rüchel, Olaf Leitner, Franz Dobler.

Vieles von Büttners dummem Zeugs über HipHop, Adorno und allerlei kann und soll hier nicht referiert werden. Eine andere Sache wäre mal der Versuch einer kritischen Theorie der populären Kultur als Massenkommunikation gewesen .

Nur ein Tatbestand, der macht das Buch dann doch zum ultimativen Standardwerk, auch wenn die Kritik an der Orthographie sonst nicht meine Sache ist: Der "Chefideologe der deutschen Rocktheorie" (Büttner) ist - wie oben zitiert - auf allen Seiten falsch geschrieben (richtig ist: Diederichsen). Das ist gnadenlos unhip hip.

Jean-Martin Büttner: Sänger, Songs und triebhafte Rede. Stroemfeld/Nexus, Basel 1997, 675 S., DM 68