ist Kleist- und Kafka-Herausgeber beim Verlag Stroemfeld/Roter Stern in Basel

Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Ich habe das Spiel bei meinem Großvater erlebt, der hatte den besten Fernseher. Ich war ganz auf der Seite der BRD. Dabei galt ich in meiner Familie, obwohl ich damals erst 16 Jahre alt war, schon als Linker, als Quertreiber, die Sprüche wie "Geh doch rüber, wenn es dir hier nicht paßt" kannte ich also zur Genüge. Aber: Wenn's bei uns schon schlimm ist, dann ist es mit tausendprozentiger Sicherheit in der DDR noch schlimmer, das war mir klar. Auch wenn es mit den Freiheitsräumen bei uns nicht so doll war, man konnte sich immerhin einen Weg suchen.

Den Werdegang der DDR-Mannschaft während der WM hatte ich eigentlich nicht verfolgt, erst in dem Augenblick, als die beiden Teams aufeinandertrafen, nahm ich sie wahr. Da hat mir das Auftreten der DDR-Elf sehr gestunken. Mir waren die Typen richtig unsympathisch, auch Sparwasser, besonders durch das Zwanghafte, mit dem die Leitung der Mannschaft auftrat. Deren ständige Rede vom Kollektiv war unangenehm, Trainer Buschner sprach immer nur davon - extrem unangenehm war allerdings, daß sie das Wort nicht richtig aussprechen konnten, es klang immer wie "Gollegtiv".

Dabei ist im Fußball die Mannschaft das eine, aber es müssen auch Individualisten dabei sein - gerade Sparwasser bewies das für einen Augenblick mit seinem Tor. Wenn ein Fußballspiel gut ist, dann hat es tausend Momente, von denen weiland Goethe in seinem Shakespare-Aufsatz träumen konnte: daß in ihnen Freiheit und Notwendigkeit genau zusammenhingen. Deswegen: Kollektiv ja, aber Individuum muß auch sein. Nicht unbedingt auf die zwanghafte Weise, die Basler von seinem Manager nahegelegt wurde, auch nicht auf die Häsler-Häßler-Tour, aber vielleicht wie Wuttke - aber wer kennt den nochÖ

Sparwasser war damals nur einer, der seinen Job besser machte als "Sportsfreund Buschner" das eigentlich wollte, er war auf keinen Fall ein Botschafter fußballerischer oder sonstiger Freiheit. Ich habe später Sparwassers Laufbahn verfolgt, er spielte ja nach seiner Republikflucht bei der Eintracht, später wurde er Trainer unter anderem bei Darmstadt. Vor einigen Tagen habe ich ihn zufällig im Fernsehen gesehen - er ist mir immer noch sehr unsympathisch.

Am Abend des Spiels, in dem er das Tor schoß, da war das schon ein Anlaß zu Depressionen, denn es blieb nur noch wenig Zeit, das Ergebnis umzudrehen. Damals hatte ich schon die Vorstellung, daß gerade etwas Epochales geschehen war, eben epochales Unrecht. Und daran erinnere ich mich sehr ungern.