Dickes Buch zum langen Abschied

Die gesammelten Werke der RAF dokumentieren die über 25jährige Entwicklung der Stadtguerilla-Gruppe

Kennen Sie den: "So ist der Sprung aus der Dialektik der Konfrontation '77 zu qualitativ veränderten subjektiven Bedingungen des Kampfes hier und unser Schritt zur Basis des Prozesses des Widerspruches im Inneren dieses Zentrums vollkommen in die Entwicklung, in die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des internationalen Klassenkrieges integriert. Er kam sozusagen gerade rechtzeitig"? Oder vielleicht den: "Die revolutionären Prozesse sind die Erfahrungen, die aus der Agonie zwischen Leben und Tod heraus, hin zu einem entschlossenen Kampf für das Leben geführt werden"?

Nein, halt, nicht aussteigen! Es wäre in der Tat unredlich, die RAF ausgerechnet an ihren krudesten Verlautbarungen zu messen. Beweist doch das jetzt unter dem Titel "Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF" erschienene Buch, daß die Gruppe in ihrem knapp 30jährigen Kampf durchaus anderes zu bieten hatte. Auf 540 Seiten dokumentiert der im ID-Verlag herausgegebene Wälzer beinahe jede schriftliche Verlautbarung der RAF sowie zahlreiche Erklärungen, in denen sich Gefangene aus der Stadtguerilla-Gruppe kollektiv zu Wort gemeldet haben.

Wie schon bei einem ähnlichen Band zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora (RZ) halten sich die Herausgeber des ID-Verlages auch diesmal zurück: Auf wenige Seiten beschränkte "Vorbemerkungen" stellen die jeweilige politische Situation des in vier Phasen eingeteilten Zeitraums zwischen 1970 und 1996 dar und enthalten sich einer eigenen Position. Mag dadurch auch mancher Leser und manche Leserin nicht die Vehemenz nachvollziehen können, mit der im linksradikalen Lager um die RAF gestritten wurde, so dokumentieren die Originaltexte dennoch ungeschönter als jede subjektive Darstellung die ideologische Entwicklung einer Gruppe, die ab 1971 mit dem "Konzept Stadtguerilla" in die Praxis umsetzte, was aufsässige Studenten und Studentinnen noch auf dem Vietnam-Kongreß 1968 diskutiert hatten: die Notwendigkeit der bewaffneten Intervention in den Metropolen.

Mit den "intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Alles-besser-Wissern" wollten sich die RAF-Gründer und Gründerinnen allerdings damals nicht länger beschäftigen. "Es nützt nichts, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen", schreiben sie in einer Erklärung zur Befreiung von Andreas Baader, mit der 1970 in der undogmatisch-linksradikalen Berliner Zeitschrift 883 zum "Aufbau der Roten Armee" aufgerufen wurde. Über den Adressaten ließ die Gruppe keine Zweifel: "Kriegt raus, wo die Heime sind und die kinderreichen Familien und das Subproletariat und die proletarischen Frauen, die nur darauf warten, den richtigen in die Fresse zu schlagen." Die Aufgaben waren klar gesteckt: "Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzlichkeit zu zerstören." Und, wie die RAF zu ihrem Anschlag auf das Hauptquartier der US-Army in Frankfurt/Main 1972 erklärte: "Für die Ausrottungsstrategen von Vietnam sollen Westdeutschland und Westberlin kein sicheres Hinterland mehr sein."

In ihrer Praxis schlugen sich die ausführlichen Statements über den Chemiearbeiter-Streik 1971 zwar ebensowenig nieder wie die Proklamation, "sadistischen Erziehern" in Fürsorgeheimen Grenzen zu setzen. Dennoch ließ die Vorstellung, man könne einen Konzernchef gefangennehmen, "weil er Arbeiter auf die Straße gesetzt hat", auf ein Konzept hoffen, das klassenkämpferische und sozialrevolutionäre Positionen mit antiimperialistischen vereinbarte.

Schließlich gab es jenen Widerspruch noch nicht, der später zahlreiche Militante von der RAF Abstand nehmen ließ: Die vermeintliche Unvereinbarkeit zwischen sozialrevolutionären und antiimperialistischen Ansätzen. Im Gegenteil: Aus dem heutigen Blickwinkel erscheint das uneingeschränkte "Vertrauen in die Massen", das die RAF, fast allen anderen Linksradikalen gleich, Anfang der siebziger Jahre noch aufbrachte, ungewöhnlich: "Die Kraft der Volksmassen konkret entdecken und so die Resignationin den Massen überwinden", schreibt sie 1971 "über den bewaffneten Kampf in Westeuropa".

Wurden die "Massen" allerdings im internationalen Maßstab zum Kronzeugen für die Richtigkeit des eigenen Handelns, konnte diese Logik durchaus beängstigende Züge annehmen. So lobte die RAF den Angriff des palästinensischen Kommandos Schwarzer September auf die israelische Olympia-Mannschaft 1972 mit den Worten: "Sie (die Aktion; W.-D.V.)) hat eine Sensibilität für historische und politische Zusammenhänge dokumentiert, die immer nur das Volk hat." Daß solche Sätze ebenso wie die regelmäßige Gleichsetzung des israelischen Staates mit dem deutschen Faschismus dem Mainstream linker Positionen entsprach, spricht zwar gegen die damals in der gesamten Linken geführte Debatte, entschuldigt aber eine Gruppe, die sich wie kaum eine andere auf den palästinensischen Kampf bezogen hatte, nicht.

Die Dokumentation der RAF-Statements entwickelt ein gegenläufiges Bild zur durchschnittlichen Wahrnehmung der Gruppe. Waren es bislang hauptsächlich die Aktionen, nach denen die Gruppe - im guten wie im schlechten - beurteilt werden konnte, so könnten jetzt, nachdem die Angriffe nicht mehr die aktuelle Wahrnehmung bestimmen, die Erklärungsmuster eine wichtigere Rolle einnehmen. Und mit ihnen auch die Sprachlosigkeit, die ausgerechnet in jener Phase einsetzte, als die die RAF wieder zum Medienhype wurde: Die sogenannte "Offensive '77". Denn gerade in diesem Zeitraum blieben die Aktivisten und Aktivistinnen einsilbig: Nur in knappen Worten erläuterte die RAF ihre Aktionen gegen den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Chef der Dresdener Bank sowie den Arbeitgeberpräsidenten und ehemaligen SS-Mann Hanns-Martin Schleyer. Eine strategische Bestimmung, die über das konkrete Ziel der Befreiung von Inhaftierten hinaus geht, sucht man vergeblich. Einzig die Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe meldeten sich im Januar 1976 gemeinsam mit einer ausführlichen politischen Erklärung zu Wort.

Erst über zehn Jahre nach Gründung der RAF versucht sich die Gruppe außerhalb der Gefängniszellen wieder an einer konzeptionellen Neudefinierung. Begründete die RAF der frühen siebziger Jahre den Ansatz Stadtguerilla noch über Mao Tse Tungs Thesen zum Volkskrieg und die Erfahrungen der lateinamerikanischen Guerilla, so besteht das im Mai 1982 veröffentlichte Konzept "Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front" nur noch aus Sprachhülsen. Fünf Jahre nach der rückhaltslosen Niederlage von 1977, fünf Jahre, in denen die Gruppe neben einigen Aktionen gegen US-Ziele vornehmlich durch Hungerstreiks der Gefangenen für ihre Zusammenlegung in Erscheinung getreten war, erklärt die RAF: "Jetzt ist die Frage, ob in der BRD und Westeuropa bewaffnet gekämpft werden soll und gekämpft wird, erledigt. Es ist evident." Warum auch immer.

Dem in dem Papier angedeuteten, in späteren Erklärungen konkret formulierten Konzept, die Kommando-Ebene, legale Strukturen und die Gefangenen aus der RAF über eine gemeinsame politische Bestimmung - "die Front" - zu organisieren, lagen ideologische Fragmente zugrunde, die nur noch die einfachsten Dichotomien aus den Anfangszeiten aufgriffen. Auf der einen Seite der US-Imperialismus, die bis in jede deutsche Amtsstube eindringende Besatzungsmacht, die mit ihren "Weltbeherrschungsplänen" (Erklärung zum Anschlag auf das europäische Hauptquartier der US-Air-Force in Ramstein 1981) als Hauptfeind der Menschheit erscheint. Auf der anderen Seite der militante Gutmensch, der im Kampf gegen diese Macht mit den Unterdrückten des Trikonts verbündet ist. Hier das korrumpierte Metropolenproletariat, das die Gepeinigten der drei Kontinente ausbeutet, dort jene, die sich von dieser Schmach durch den "subjektiven Sprung in die Konfrontation" freikaufen.

Und für die Entschlossensten bot die "antiimperialistische Front" die Guerilla, das vermeintlich "befreite Gebiet der Illegalität", auf dem alltägliche Widersprüche wie etwa die zwischen Männern und Frauen quasi überwunden seien. Die Parole: "Mensch oder Schwein", wie das RAF-Mitglied Holger Meins einst formulierte. Das Angriffsziel: Der militärische-industrielle Komplex, der im Namen des US-Imperialismus die Welt kontrolliert. In ihrer Hungerstreikerklärung vom 4. Dezember 1984 betonen dann auch die Gefangenen aus der RAF: "Ihre Macht ist Militärstrategie, Aufstandsbekämpfung, Maschine - aber hohl, nur Gewalt, sonst nichts."

Hatte sich die Gründergeneration der RAF noch auf marxistische Kriterien bezogen, so wollte man in den achtziger Jahren nichts mehr vom Wertgesetz wissen. Im Gegenteil: Nicht die Dynamiken, die einer warenproduzierenden Gesellschaft immanent sind, sondern die Boshaftigkeit einiger US-Strategen und ihrer bundesrepublikanischen Helfershelfer zeichneten demnach verantwortlich für die herrschenden Verhältnisse. Daß Machtstrukturen sowohl bei Herrschenden wie auch bei Beherrschten wesentlich komplexer verteilt sind, drang in dieser militaristischen Konzeption ebenso wenig durch wie die daraus resultierende Feststellung, nach der ein Aspekt militanter Organisierung der "Kampf um Köpfe der Menschen" (RZ) sein muß. Folgerichtig spielt in den Erklärungen zu Anschlägen, mit denen die "antiimperialistische Front" bis 1986 auf sich aufmerksam machte, die innenpolitische Situation in Deutschland nur im Zusammenhang mit der "NATO-Kriegspolitik" eine Rolle.

Andere Themen, mit der sich die Linke beschäftigte, blieben außen vor. So sucht man zunächst vergeblich nach einer selbstkritischen Auseinandersetzung, wie sie, wenn auch in rauhem Ton, in den Papieren der frühen RAF noch nachzulesen sind. Erst mit dem Entsetzen, das die Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental 1985 in der radikalen Linken hervorgerufen hatte, begann die Gruppe augenscheinlich wieder, sich der Auseinandersetzung mit anderen Kräften zu stellen.

Wendezeit 1989: Nachdem mit dem Fall der Mauer die letzten Gewißheiten der gesamten Linken zusammengebrochen waren, wird auch die RAF selbstkritisch und offen für alle, "die hier um Veränderung kämpfen". Zwar tötet die Gruppe noch im Dezember 1989 Alfred Herrhausen, den Chef der Deutschen Bank, ein klares Konzept für den bewaffneten Kampf aber hat sie zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr. 1992 erklärt sie den Verzicht "auf tödliche Aktionen" und machte sich in den folgenden Jahren, ebenso wie die 1993 in Bad Kleinen verhaftete Birgit Hogefeld, zahlreiche Kritiken zu eigen, mit denen die Gruppe bereits in den achtziger Jahren vor allem von autonomer Seite konfrontiert war. Die RAF übernimmt gar Positionen wie die Bewegungsorientiertheit oder den Kampf um "selbstbestimmte Freiräume", von der sich zahlreiche Autonome mittlerweile längst verabschiedet haben.

Trotz des allgemein definierten Appells zur Debatte, mit der die Reste der Gruppe an die Linke herantraten, scheiterte bislang der Versuch einer offenen Diskussion über "soziale Gegenmacht" mangels Beteiligung. Für die Herausgeber der gesammelten RAF-Werke ist dies "angesichts der zwei Jahrzehnte unterbrochenen Kommunikation mit dem größten Teil der Linken, dem desolaten Zustand der militanten Linken und dem Eingeständnis der Niederlage der RAF kaum verwunderlich". Dennoch erhoffen sie sich vorsichtig, daß die "notwendige Auseinandersetzung" mit der Geschichte der Theorie und Praxis von fast drei Jahrzehnten RAF "vielleicht in nächster Zeit intensiviert" werde.

Mit dem Show-Down des Spiegel, "Herbst der Terroristen", und mit Breloers "Todesspiel", die derzeit den öffentlichen Diskurs dominieren, hat der Wälzer des ID-Verlages nichts zu tun. Als Abendkrimi taugt er in der Tat wenig. Dagegen soll er, wie die Herausgeber trocken formulieren, Grundlage einer Untersuchung sein. Doch der Zeitpunkt des Erscheinens spricht für sich: Angelehnt an den derzeitigen Medienhype RAF läuft die gewünschte Diskussion Gefahr, spätestens mit dem Ende der medialen Inszenierung auch innerhalb der Linken so plötzlich wieder in der Versenkung zu verschwinden, wie er pünktlich zum vermarktbaren Jahrestag in Erscheinung getreten ist.

Die RAF hat in ihrem letzten dokumentierten Schreiben vom 9.Dezember 1996, einer Antwort an die damaligen Junge Welt-Mitarbeiter Ivo Bozic und Oliver Tolmein, erklärt, daß das RAF-Konzept "objektiv" überholt sei, die mit ihrer Geschichte verbundenen Fragen allerdings bleiben aktuell. Nicht zuletzt, weil die Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften immer wieder die Frage bewaffneter Propaganda und militanter Organisierung auf den Plan rufen wird.

Rote Armee Fraktion - Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. ID-Verlag, Berlin, 540 S., DM 49,80