Der Herbst der Patriarchen

Die Allmachtstellung der CSU schwindet, doch auf dem Münchener Parteitag konnte sich Bayerns Staatspartei noch einmal siegessicher geben

Kaum hatte Bundeskanzler Kohl am Samstag nachmittag in der Münchner Bayernhalle sein letztes Wort gesprochen, schon drängten die Zuhörer zur Garderobe. Ihre Pflicht hatten die rund 1 100 Delegierten - vor allem Männer - des CSU-Parteitages längst erfüllt: Die Ortsvereins- und Kreisvorsitzenden, die Bürgermeister und Gemeinderäte, die situierten Staatssekretäre und aufstrebenden Yuppies aus der Jungen Union hatten sich in feines Tuch gehüllt, hatten an der richtigen Stelle geklatscht oder die Stimmkarte gereckt und ihren Parteivorsitzenden Theo Waigel wiedergewählt - mit seinem bislang schlechtesten Ergebnis zwar, aber doch immerhin mit über 85 Prozent. Angesichts der Sommerinterview-Eskapaden des Finanzministers ein durchaus ansehnliches Resultat. Um eine allzu kräftige Watsche für Waigel und damit eine Demontage seines parteiinternen Konkurrenten zu verhindern, die auch er sich derzeit nicht wünscht, hatte sich Ministerpräsident Edmund Stoiber vor dem Wahlgang noch einmal persönlich für Theo Waigel ins Zeug gelegt: "Unsere Partei erwartet zu Recht, daß die Zugpferde nicht bocken, sondern ziehen - und zwar gemeinsam." Das Stimmvieh im Saal ergab sich seiner Statistenrolle und machte das Kreuz an der richtigen Stelle.

Nur ein einziger Delegierter wagte es doch tatsächlich, ein unliebsames Thema anzusprechen: Wie denn die CSU mit dem Problem der Freien Wähler umgehen werde? Schließlich kandidiert die bislang aufs kommunale beschränkte Wählergemeinschaft im kommenden September erstmals für den Landtag und stellt eine ernsthafte Bedrohung für die absolute Mehrheit der bayerischen Staatspartei dar. Doch kritische Stimmen waren am Wochenende in der Bayernhalle nicht erwünscht. Er habe das Thema bewußt ausgeklammert, kanzelte Waigel den Fragesteller ab: "Wir werden den Freien Wählern hier kein Forum geben." Maul halten - Reihen schließen.

Der Parteitag sollte schließlich vor allem eines: Die Schlappen vergessen machen, die die CSU in letzter Zeit einstecken mußte: Das Verfassungsgerichtsurteil gegen den bayerischen Sonderweg bei Abtreibungen, die erfolgreiche Einleitung des Volksbegehrens zur Abschaffung des Senats, den Erfolg des Volksbegehrens "Mehr Demokratie in Bayern", mit dem die Einführung von Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene erreicht wurde.

Und nicht zuletzt die Kandidatur der Freien Wähler. Die stehen zwar meist mindestens genauso weit rechts wie die CSU. Aber sie haben das Potential, den Christsozialen die entscheidenden Stimmen abzutrotzen und ihnen damit den Nimbus der Unbesiegbarkeit zu nehmen. Und wer weiß, wie es um die Zukunft der Partei bestellt sein wird, sollte das CSU-Parteibuch plötzlich nicht mehr automatisch den Einstieg in die Karriere bei den Ministerien, im Bildungswesen, im Rundfunk, in der Justiz oder in den Verbänden garantieren. Der gemeinsame Wille, dieses Horrorszenario zu verhindern, läßt die CSU-Spezis noch enger zusammenrücken. "Es geht um alles", brachte es Theo Waigel am Samstag auf den Punkt. Die Delegierten verstanden und nickten nebenbei noch allerhand Anträge mit altbekannten Inhalten ab: Keine doppelte Staatsbürgerschaft, "Null-Toleranz gegenüber Rechtsbrechern", Ausweitung von Hauptverhandlungshaft und beschleunigtem Verfahren, Erweiterung des Großen Lauschangriffs durch visuelle Überwachung von Wohnungen, Ablehnung von FixerstubenÖ

Doch all die demonstrative Einigkeit kann kaum verbergen, daß es im Gebälk der Partei gehörig kracht. So hatte der CSU-Chef einige Mühe, in seiner Begrüßungsansprache das Abservieren von Postminister Wolfgang Bötsch herunterzuspielen, der entgegen eigener Erwartung nicht zum neuen Bundesbauminister ernannt worden war, sondern dem Waigel-Intimus Eduard Oswald hatte weichen müssen. Bötsch zog auf dem Parteitag die Konsequenzen und schmiß sein Parteiamt im CSU-Vorstand hin. Stoiber düpierte seinerseits Gesundheitsminister Horst Seehofer mit einer populistischen, aber kaum durchsetzbaren Forderung nach Regionalisierung der Sozialversicherung. Seehofer fassungslos: "Wir können den sozialen Wagen in Ostdeutschland nicht gegen die Wand fahren lassen. Wenn das passiert, trage ich doch als Gesundheitsminister die Verantwortung und nicht die CSU in Bayern."

Kohls Auftritt in München verdeutlichte einmal mehr, daß der Bundeskanzler als fleischgewordene Geschichte lieber in höheren Sphären schweben möchte. Er redet nur noch von Wirklichkeit gewordenen Visionen, von phantastischen Entwicklungen, von seiner Europapolitik als "einziger Erfolgsstory".

Nicht des Kanzlers Politik ist schuld an der allgemeinen Misere, sondern die "Vollkasko-Mentalität", der fehlende Pioniergeist. "Von mir sind die Menschen noch nie getäuscht worden. So etwas verbindet sich nicht meinem Namen", phantasiert Kohl und möchte auf seinen Trip auch gleich seinen angeschlagenen Freund Theo mitnehmen: "Deine Handschrift steht im Buch der Geschichte." Das klingt wie ein Abgesang.