Made in Auschwitz

Mit der Ausbeutung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen stieg der Siemens-Konzern während des Faschismus zum mächtigsten deutschen Elektrokonzern auf

"Die erforderlichen Arbeiten waren leicht und sauber und konnten zu 90 Prozent im Sitzen ausgeführt werden", heißt es im Bericht zum "Einsatz ausländischer Zivilarbeiter, Kriegsgefangener, Juden und KZ-Häftlinge im Hause Siemens" vom 31. Oktober 1945 über die Arbeit der Zwangsarbeiterinnen im Siemens-Werk des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück. In Erwartung einer Anklage war ein Bericht erstellt worden, der die Beteiligung des Siemens-Konzerns an der "Vernichtung durch Arbeit" zynisch beschönigte. Zu Anklage und Prozeß kam es nicht mehr: Die führenden Siemens-Manager wurden ebenso wie die der IG Farben, von Krupp und anderen Konzernen beim Aufbau der Bundesrepublik gebraucht.

Die Berichte der Überlebenden sprechen eine andere Sprache: "Wir arbeiteten an Pressen, Drehbänken, Bohrmaschinen und einer Art Sägemaschine. Die Arbeitsbedingungen in Ravensbrück waren schwer, und es gab häufig Unfälle. Wir waren auf diese Arbeit keineswegs vorbereitet. Ich war noch Schülerin der Normalschule und hatte nie eine Maschine gesehen. Das alles trug dazu bei, daß wir uns oft in sehr schlimmen Situationen befanden. Es gab Verletzungen an den Händen, durchbohrte Finger, und oft bekamen wir Eisensplitter in die Augen, denn die Maschinen hatten keinerlei Schutzvorrichtungen. Auch im Labor war die Arbeit gefährlich, wir mußten mit Säuren umgehen. Es kam zu Übelkeiten und Erbrechen. Waren die Häftlinge verletzt oder krank, so schickte man sie ins Lager zurück und Siemens konnte sich unter jungen Häftlingen, die gerade ins Lager gekommen waren, neue Arbeiter aussuchen und so die fehlenden Arbeitskräfte ersetzen", faßt Rita Guidon, die als Schülerin aus Brüssel deportiert worden war, die Realität der Zwangsarbeit bei Siemens in Ravensbrück zusammen.

Siemens bestreitet bis heute jeden engeren Zusammenhang zwischen dem Nationalsozialismus und der Entwicklung des Siemens-Konzerns in jenen Jahren. Ungern will man an die Worte Carl Friedrich von Siemens erinnert werden, mit denen er amerikanische Industrielle 1931 zu beeindrucken suchte: "Hitler hat seine wirklichen Anhänger zu starker Disziplin erzogen, um revolutionäre Bewegungen des Kommunismus zu verhindern." Und ungern daran, daß Siemens wie alle anderen Großunternehmen die NSDAP unterstützte - der Vorstandsvorsitzende Dr. Rudolf Bingel gehörte dem "Freundeskreis der NSDAP" an - und daß der Führer sich wiederum auch nicht lumpen ließ, als er wenige Wochen nach der Übergabe der Macht an seine Partei im Februar 1933, Carl Friedrich von Siemens in den Generalrat der Deutschen Wirtschaft berief.

Noch im selben Jahr gründete man eine Firma, die speziell die Aufrüstung der Wehrmacht unterstützte. Der Konzern hatte in den zwanziger Jahren das Verbot elektrotechnischer Rüstungsentwicklung durch den Versailler Vertrag umgangen, indem er diesen Industriezweig ins europäische Ausland verlagerte und stand so mit Beginn der offenen Hochrüstung im Deutschen Reich 1933/34 an führender Position. Siemens-Manager waren bei der Zentralisierung der Kriegsproduktion in entscheidenden Funktionen, wie Parteimitglied und SS-Offizier Friedrich Lüschen, u.a. Reichsbeauftragter der Reichsstelle für elektrotechnische Erzeugnisse und Leiter der Wirtschaftsgruppe Elektroindustrie. Der Konzern profitierte enorm von seiner engen Verquickung mit dem NS-Staat. So verdoppelten sich im Zeitraum von 1938 bis 1944 die Umsätze von 964 auf 1 812 Millionen Reichsmark.

Der Siemens-Konzern war eines der ersten Unternehmen, die sich auf die kriegsbedingten Veränderungen, den Arbeitskräftemangel und den rapide steigenden Rüstungsbedarf für den "totalen Krieg" einstellten - mit dem massiven Einsatz von Zwangsarbeitern. Schon vor dem Novemberpogrom 1938 waren die jüdischen ArbeiterInnen des Konzerns besonderen Schikanen und Diskriminierungen ausgesetzt. Siemens richtete Sonderabteilungen für sie ein und verschärfte die Arbeitsbedingungen. Seit dem Frühjahr 1940 setzte der Konzern als einer der ersten jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in seinen Werken ein. Ihre Angst vor der Deportation in die Vernichtungslager benutzte der Konzern als Druckmittel, um ihre Arbeitskraft ohne jede Rücksicht auszunutzen.

Im August 1942 ließ Siemens dann beim Frauen-KZ Ravensbrück ein eigenes Werk errichten. Die KZ-Häftlinge mußten unter arbeitsteiliger Aufsicht und Anleitung von Siemens- und SS-Personal elektrotechnische Produkte herstellen. Es wurden Fachkräfte aus den Siemens-Stammbetrieben, meist aus Berlin, nach Ravensbrück angeworben. 1944 wurden neben den 21 Arbeitsbaracken noch zehn Wohnbaracken für mindestens 2 000 Häftlingsfrauen aufgestellt, um die Zeit des An- und Abmarsches aus dem Stammlager zu sparen.

Aus diesen Erfahrungen resultierte für Siemens die Erkenntnis, daß es sich auszahlte, die ständige Drohung der Vernichtung bei Arbeitsunfähigkeit zur Erzwingung von Höchstleistungen der KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auszunutzen. In den folgenden Jahren wendete der Konzern den Einsatz von ZwangsarbeiterInnnen zielstrebig an, so daß im Jahre 1943 über 30 Prozent der Gesamtbelegschaft von über 200 000 Menschen zwangsverpflichtete Fremdarbeiter, Kriegsgefangene, jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge waren. In der Siemens-Festschrift liest sich das heute so: "Siemens beschäftigte zu dieser Zeit (1944) bei einer Gesamtbelegschaft von 244 000 Mitarbeitern etwa 50 000 Arbeitskräfte gegen deren Willen. Die Gesamtzahl der bei Siemens während des Zweiten Weltkrieges eingesetzten Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter liegt allerdings weit höher." (Hervorhebung von T.K.)

Auch in Auschwitz war Siemens aktiv, ließ in Auschwitz-Monowitz und Bobrek in eigenen Fabriken produzieren. Überall dort, wo die Wehrmacht hinkam, war auch die Siemens-Bau-Union, die die Verkehrsinfrastruktur schuf oder ausbaute: Tausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter mußten Gräben ausheben und Straßen bauen; waren sie am Ende ihrer Kräfte, wurden sie von der SS umgebracht. In den Bergwerken der Siemens AG in Südosteuropa, zum Beispiel im Kupferbergwerk Bor in Serbien, wurde eine bis heute unbekannte Zahl von Menschen, vor allem Serben, Roma und Juden, "durch Arbeit vernichtet": Sie mußten sich zu Tode arbeiten. An der Verlegung von Rüstungsproduktionsstätten untertage beteiligte sich Siemens ebenfalls, als Ende des Krieges beispielsweise die Raketenproduktion nach Dora-Mittelbau bei Nordhausen verlegt werden mußte, weil die Alliierten Peenemünde weitgehend zerstört hatten; Zehntausende KZ-Häftlinge wurden dorthin verlegt, um schließlich ermordet zu werden oder an Entkräftung zu sterben.

Nach 1945 versuchte Siemens, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Der Konzern behauptet bis heute, vom NS-Staat zum Einsatz von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gezwungen worden zu sein. Demnach liege die Verantwortung für Entschädigungsansprüche allein beim deutschen Staat als Rechtsnachfolger des "Dritten Reichs". Im Verlauf der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher und gegen IG Farben sowie durch die historische Forschung wurde jedoch bewiesen, daß das Interesse am Einsatz von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und dahingehende Initiativen in jedem Fall von der Industrie, so auch von der Siemens AG, ausgegangen ist.

Der Siemens-Bericht von 1945 wurde nie veröffentlicht, nur durch Zufall gelangte die Jewish Claims Conference in den fünfziger Jahren an ein Exemplar. Er wurde zum entscheidenden Beweismittel gegen Siemens in den zähen Verhandlungen um Entschädigungsleistungen für jüdische ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Der Konzern zahlte schließlich Anfang der sechziger Jahre insgesamt sieben Millionen DM an 2 203 Überlebende - ohne Anerkennung einer rechtlichen Verpflichtung. "Von 6 000 erhobenen Ansprüchen konnten aufgrund der restriktiven Auflagen des Hauses Siemens nur etwa ein Drittel anerkannt werden: Für Sklavenarbeit, Schmerz und Leid erhielt jede/jeder eine einmalige Zahlung von nicht mehr als 3 300 Mark", schreibt der Unterhändler der Claims Conference, Benjamin Ferencz, in seinen Memoiren "Der Lohn des Grauens".

Die Siemens-Festschrift bilanziert 1997 das Jahr der Befreiung buchhalterisch korrekt: "Der Gesamtverlust, den Siemens durch den Zweiten Weltkrieg erlitt, belief sich auf 2,58 Milliarden Reichsmark, das waren insgesamt vier Fünftel der Unternehmenssubstanz."